Leben im Osten
Von Helmut Höge
Die Bewohner der Inselkette zwischen Kamtschatka und Alaska nennt man Aleuter. Als Alaska von den Russen kolonisiert wurde, kamen auch einige Missionare auf die Inseln, die den Heiden den orthodoxen Glauben einbläuten. »Das größte Hindernis bei der Verbreitung des rechten Glaubens« bestand jedoch darin, »dass die Kirche statt fähiger Leute diejenigen in die Kolonien schickte, die sie loswerden wollte«, schreibt die finnische Literaturwissenschaftlerin Iida Turpeinen (»Das Wesen des Lebens«, 2024). Als Alaska und die Inseln 1867 von den Amerikanern gekauft wurden, kamen die Missionare aus den USA, sie waren nicht besser.
Und so war es teilweise auch bei der Kolonisierung der DDR ab 1990: Die BRD schickte Adlige, die in den Konzernen nur Repräsentationsaufgaben gehabt hatten, ältere Banker, die die Stelle eines jüngeren blockierten, Manager im Ruhestand, unterbeschäftigte Leihbeamte und Gewerkschafter mit Alkohol- und sonstigen Problemen. Auf eigene Faust kamen dazu noch Hochstapler, Glücksritter und Betrüger. Letztere taten sich sogar zusammen, um eine gutgläubige Stadtsparkassen-Filialleiterin in Sachsen-Anhalt um 700 Millionen DM zu prellen, wie Wolfgang Sabath in seinem Buch »Peanuts aus Halle« (1998) schreibt.
Am Ende ging es vor allem um Immobilien. Besonders fiel dabei ein Makler aus Bad Schwartau auf: Christoph Wöhlcke. Er erwarb von einer Erbengemeinschaft für 60.000 Mark elf Hektar Land im Ortskern von Passee, einem Dorf in Mecklenburg: für 52 Pfennig pro Quadratmeter. Das Grundstück hatte zu DDR-Zeiten bereits die LPG für 10.000 Mark gekauft, es jedoch nicht ins Grundbuch eintragen lassen. 1972 waren dort eine Kläranlage und die Gemeindeverwaltung mit Post, Arztstation und Konsum errichtet worden. Das alles gehörte dann Wöhlcke, der daraufhin 12.000 DM Miete monatlich für das Verwaltungsgebäude vom ehrenamtlichen Bürgermeister Wittek verlangte, 15.500 DM für die Kläranlage und 5.000 DM für den Konsum. Just an dem Tag, als die Gemeinde Passee ihr 675jähriges Bestehen feierte, ließ Wöhlcke den Konsum von einer Gerichtsvollzieherin, die zwanzig Polizisten mitbrachte, zwangsräumen. Im Sommer 1993 versperrte Wöhlcke die Zufahrt zum Gemeindebüro mit vier Tonnen Kies.
Es kam zu Schlägereien und Protestveranstaltungen. Um dem bedrängten Dorf wenigstens moralisch beizustehen, erklärte der Kreistag Wöhlcke zur »unerwünschten Person« im Kreis Wismar. Die Bild nannte ihn »Spezialist für komplizierte Grundstücksfragen«. 1995 veröffentlichte der Rostocker NDR-Reporter Michael Schmidt ein Buch über den Fall: »Krieg in Passee«.
In einem anderen Fall ging es um etliche tausend arbeitslose Betroffene: Sie hatten mit ihrer Abfindung und einem Kredit Eigentumswohnungen zur »Alterssicherung« von gerissenen »Finanzberatern« und Maklern erworben, die jedoch unvermietbar waren. Ein Studentenwohnheim auf der »Grünen Wiese« bei Kassel z. B., dessen Wohnungen viel zu teuer für Studenten waren. Oder einen Supermarkt, ebenfalls auf der »Grünen Wiese« bei Gera, in den laut eines geheim gehaltenen Vertrages mit Lidl und anderen Lebensmittelkonzernen zehn Jahre lang kein Supermarkt einziehen durfte. Einige Hunderte demonstrierten vor dem Reichstag, wo sie sich von Rita Süssmuth sagen lassen mussten: »Ihr hättet besser aufpassen müssen.«
Der erste Treuhandchef Detlev Rohwedder urteilte über diese ganzen »Investoren«: »Die benehmen sich schlimmer als Kolonialoffiziere!« Sinnigerweise bekamen die Treuhandmanager für ihr »Engagement« im Osten eine »Buschzulage«. Sie reduzierten erst einmal scheibchenweise die Belegschaften in den Betrieben, die sie dann »abwickelten«. Die Massenentlassungen bezeichneten sie als »Großflugtage«. Diese wurden unter der zweiten Treuhandchefin Birgit Breuel noch forciert. Sie erklärte das mit der von der DDR-Regierung bis 1989 »versteckten Arbeitslosigkeit«: »Die Betriebe waren doch übervölkert.«
Weil in den Achtzigerjahren die Neonazis in Hessen immer mehr wurden, forderten die Grünen, als sie 1985 an der Landesregierung beteiligt wurden, 50 ABM-Stellen zur Betreuung der Eltern von Neonazis – und bekamen sie auch. In den Neunzigerjahren legte Angela Merkel als Familienministerin einen üppigen »Gewalttopf« auf – für die Neonazis im Osten, mit der Folge, dass z. B. in Marzahn-Nord der Punkerjugendclub plötzlich ein Neonaziclub wurde, ausgestattet mit Kleinbus, Computern usw. Betreut wurden diese Herzchen dort (wie auch anderswo) von einem cleveren Sozialarbeiter aus dem Westen.
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