Ross und Reiter
Von Holger Römers
Wenn die Darstellung des Galoppsports in »Kill the Jockey« der Realität entspräche, dann hätten argentinische Mafiosi eine Methode gefunden, um als Rennstallbesitzer verlässlich Gewinne zu erzielen, ohne das Wettkampfgeschehen manipulieren zu müssen. Die Jockeys wären wiederum so populär, dass sie mit etwaigen Eskapaden prompt die Titelseiten der großen Tageszeitungen des Landes füllen könnten. Jedenfalls lassen einzelne Dialoge dieses launigen Spielfilms früh darauf schließen, dass die Reiterin Abril (Úrsula Corberó) ihrem kriminellen Chef Sirena (Daniel Giménez Cacho) mit Rennerfolgen konstante Einkünfte beschert. Doch der Ruhm der jungen Frau wird von dem ihres Kollegen und Liebhabers Remo (Nahuel Pérez Biscayart) noch übertroffen, weshalb es irgendwie lukrativer erscheint, ihn das besondere Pferd reiten zu lassen, das Sirena jüngst in Japan gekauft und von dort hat einfliegen lassen. Remo ist freilich dem Alkohol und anderen Drogen verfallen, weshalb sein Ritt zu einem Fiasko führt – und zwar für das Ross wie für den Reiter, den eine eingeblendete Schlagzeile daraufhin zu einer »verfluchten Legende« verklärt.
Nach gut einem Drittel der Filmdauer liegt der Protagonist im Koma, und Regisseur Luis Ortega, der zusammen mit Fabian Casas und Rodolfo Palacios auch das Drehbuch verfasst hat, lässt wohl absichtlich daran zweifeln, ob dieser Mann jemals wieder zu Bewusstsein kommt. Indem er gelegentlich Aufnahmen von Überwachungskameras einstreut, stellt der 1980 in Buenos Aires geborene Filmemacher immerhin klar, dass es nicht einer bloßen Phantasievorstellung Remos entspricht, wenn wir den von einer schweren Gehirnerschütterung Betroffenen unvermittelt aus dem Krankenhaus spazieren und orientierungslos durch die argentinische Hauptstadt streunen sehen. Gelegentlich spiegelt die Dramaturgie auch die Ungeduld von Sirenas wortkargen Handlangern, die den verschwundenen Jockey suchen, sowie die Ratlosigkeit der besorgt zurückgebliebenen Abril – die sich indes bald von einer anderen Reiterin (Mariana Di Girolamo) trösten lässt.
Über weite Strecken der Handlung wird die Erzählperspektive jedoch von den Streifzügen Remos bestimmt, weshalb stets fraglich ist, inwiefern die Bilder auf der Kinoleinwand von der geistigen Verwirrung dieser Hauptfigur geprägt sind. Da schon die Ausgangskonstellation, wie skizziert, in einem kuriosen Paralleluniversum angesiedelt war, das mit der Wirklichkeit des Galoppsports und des organisierten Verbrechens kaum Ähnlichkeit haben dürfte, mag man der zunehmenden Surrealität der mäandernden Filmhandlung ihre eigene verquere Logik zubilligen. Dass Remo »in drag« durch Buenos Aires streift, ist zunächst einfach damit zu erklären, dass er beim Verlassen des Krankenhauses zum Pelzmantel und Handtäschchen einer älteren Bettnachbarin gegriffen hat. Wenn die Hauptfigur später, während eines Gefängnisaufenthalts, den Wechsel der Geschlechtsidentität noch weitertreibt und den Namen Dolores annimmt, scheint sich wiederum eine Episode aus der Vergangenheit zu wiederholen, die Sirena zuvor Abril erzählt hat.
Ein letzter wundersamer Gestaltwandel von Dolores reicht schließlich an die Paradoxien eines David Lynch heran, dessen »Twin Peaks« einem wohl nicht zufällig schon in den Sinn kommt, wenn Remo vorübergehend sein Spiegelbild verliert oder Dolores buchstäblich die Wände hochgeht. Dass die coole Lakonie von Erzählton und -rhythmus unter anderem an Aki Kaurismäki denken lässt, dürfte erst recht Absicht sein, da dessen langjähriger Kameramann Timo Salminen von Ortega mit der Bildgestaltung betraut worden ist. So mag »Kill the Jockey« stellenweise wie verspätetes Zitatkino wirken. Allerdings bedient der argentinische Filmemacher, von dessen vorangegangenen sieben Spielfilmen keiner einen deutschen Kinostart hatte, sich mit wirklich entwaffnender Ungezwungenheit bei etwaigen Vorbildern. Und sein Fetisch für die (kunst-)seidenen Trikots und Lackstiefel der Jockeys, den zwei herrliche Tanzszenen zelebrieren, ist allemal als Eigenart zu werten.
»Kill the Jockey«, Regie: Luis Ortega, Argentinien/Spanien/USA u. a. 2024, 96 Min., bereits angelaufen
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