Lieber totschweigen
Von Hellmut Kapfenberger
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sozialistische Republik Vietnam blicken am 23. September – im Zeichen einer 2011 beschlossenen »Strategischen Partnerschaft« – auf 50 Jahre diplomatischer Beziehungen zurück. Wer in der DDR gelebt oder sich auch nur etwas mit der Geschichte der deutsch-vietnamesischen diplomatischen Beziehungen beschäftigt hat, weiß allerdings, dass diese schon 20 Jahre zuvor ihren Anfang genommen haben. Auch Vietnam hat das nicht vergessen. Dafür, dass das heutige amtliche Deutschland wie einst das Bonner Bundesdeutschland im Gegensatz zum geschichtsbewussten Vietnam dem Erinnern daran nichts abgewinnen kann, gibt es mindestens zwei Gründe. Zum einen müsste konstatiert werden, dass einst nicht die Bundesrepublik als erste ihre Fühler in Richtung Vietnam ausgestreckt hatte. Geschenkt! Zum anderen, das aber wäre für einstige westdeutsche, selbst noch für die heutigen Verantwortungsträger im hiesigen Politikbetrieb sehr schmerzhaft, müsste eingestanden werden, dass die Bundesrepublik in Sachen Vietnam anfangs zwei Jahrzehnte lang völkerrechtswidrig handelte und den Krieg der USA unterstützte. Verwundern konnte diese Beteiligung am Völkerrechtsbruch nicht, entsprach sie doch ihrem auch nach der Einverleibung der DDR nicht geläuterten Wesen, ihrer ungebrochenen Treue zum antikommunistischen Erbe.
Lassen wir die Fakten sprechen. Am 3. Februar 1950 erkannte die Provisorische Regierung der DDR die am 2. September 1945 gegründete Demokratische Republik Vietnam (DRV) offiziell an. Vietnam stand zu dieser Zeit in hartem Abwehrkampf gegen den nur Tage nach der Ausrufung der Unabhängigkeit gestarteten Versuch Frankreichs, den verlorenen Indochina-Kolonialbesitz zurückzuerobern. Andere sozialistische Staaten, so die Sowjetunion und die Volksrepublik China, taten es der DDR gleich. Die Regierung Ho Chi Minh hatte am 14. Januar 1950 vom Widerstandszentrum im gebirgigen Landesnorden aus – die Landeshauptstadt Hanoi war in der Hand der Franzosen – die Welt auf die Lage in Vietnam aufmerksam gemacht und als rechtmäßige Regierung erstmals die Bereitschaft bekundet, »diplomatische Beziehungen mit den Regierungen aller Länder aufzunehmen, die die Gleichberechtigung, territoriale Souveränität und nationale Unabhängigkeit Vietnams achten«. Am 7. März 1954, eine Woche vor Beginn der Schlacht von Dien Bien Phu, unterzeichneten die Botschafter der DDR und der DRV in Beijing im Auftrag ihrer Regierungen eine Vereinbarung über den Botschafteraustausch. Johannes König, DDR-Botschafter in China, übergab am 2. Januar 1955 in der seit August des Vorjahres freien Hauptstadt Hanoi als Zweitakkreditierung sein Beglaubigungsschreiben. Am 30. August 1955 nahm die erste deutsche Botschaft im unabhängigen Vietnam mit Sitz in Hanoi ihre Arbeit auf.
Vom Westen ignoriert
Den Ruf der Regierung Ho Chi Minh vom Januar 1950 hatte die westliche Welt ignoriert. Die Bundesrepublik sah sich an der Seite Frankreichs und ließ Paris auf deutschem Boden nicht nur ungestört, sondern ausgesprochen wohlwollend, zum Teil mit erpresserischem Druck, Tausende junge Männer als Fremdenlegionäre für das in Indochina mordende Expeditionskorps anheuern. Frankreichs militärisches Abenteuer endete am 7. Mai 1954 mit der Kapitulation der Festung Dien Bien Phu. Am Tag danach trat eine von der UdSSR erzwungene Indochinakonferenz¹ in Genf zusammen, die im Juli völkerrechtlich verbindliche Beschlüsse für die Zukunft Vietnams und ganz Indochinas verabschiedete. Vietnams Nord- und Südhälfte wurden zu »Umgruppierungszonen« zur Separierung der Truppen beider kriegführenden Seiten erklärt, getrennt durch eine nicht als Grenze geltende »zeitweilige militärische Demarkationslinie«. Die »zuständigen repräsentativen Behörden beider Zonen«, die Regierung der DRV und eine von den Franzosen 1949 im rückeroberten Landessüden, in Hue, implantierte Separatregierung unter Kaiser Bao Dai², sollten am 20. Juli 1955 Verhandlungen zur Vorbereitung für die für den Juli 1956 vorgesehenen allgemeinen Wahlen in beiden Zonen aufnehmen.
Dazu kam es nicht. Die USA, die Frankreichs Feldzug mit großem materiellen und finanziellen Aufwand erst möglich gemacht hatten und nur als »Beobachter« in Genf vertreten waren, fühlten sich nach Präsident Dwight D. Eisenhowers Bekunden nicht an die Beschlüsse gebunden. Der Nationale Sicherheitsrat der USA verpflichtete die Regierung, »einen kommunistischen Sieg durch gesamtvietnamesische Wahlen zu verhindern«. Ihr aus den USA eingeflogener Gewährsmann Ngo Dinh Diem³ hatte Bao Dai auszubooten, im Oktober 1955 für den Landessüden eine »Republik Vietnam« mit Saigon als Hauptstadt auszurufen und die Konferenzbeschlüsse rigoros zurückzuweisen.
Die Bundesregierung, über die Vorgänge offenbar bestens informiert, war sofort zur Stelle. Noch im Oktober erkannte Bonn als erster Staat nach den USA das Separatstaatsgebilde an. Am 12. Dezember folgte die Herstellung konsularischer Beziehungen mit der Eröffnung eines Generalkonsulats in Saigon, das am 12. Juni 1957 zur Gesandtschaft wurde. Am 25. April 1960 erhob man diese diplomatische Vertretung schließlich in den Rang einer Botschaft. Die stellte erst wenige Tage vor dem schmählichen Ende des Regimes, am 24. April 1975, ihre Arbeit ein. Sechs Tage später marschierten Befreiungstruppen in die Stadt ein, die Machthaber des antikommunistischen Regimes kapitulierten bedingungslos. Bonn hatte es von Anfang bis Ende nach Kräften politisch, propagandistisch, ökonomisch, materiell, teils auch personell, vor allem aber als zweitgrößter Geldgeber nach den USA finanziell unterstützt. Noch Ende 1974 hatte Bonn Saigon einen langfristigen Kredit über 40 Millionen DM gewährt. Ab 1965 war man in mancherlei Hinsicht auch direkt den US-Aggressoren zu Diensten gewesen.
BRD: Nazis und Militärs
Und wer durfte von Beginn an diese Bundesrepublik auf südvietnamesischem Boden vertreten? York Alexander von Wendland, Spross eines königlich bayrischen Rittmeisters, amtierte als erster Botschafter der BRD bis Juni 1964. Er war am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP geworden und im April 1936 in den auswärtigen Dienst des Nazireichs eingetreten. 1938 bestand er die »diplomatisch-konsularische Prüfung«. Auslandsstationen waren in der Folge das Konsulat in Brünn, das Generalkonsulat in Batavia (damals Hauptstadt des Kolonialgebiets Niederländisch-Indien, heute als Jakarta Hauptstadt der Republik Indonesien) und ab 1940 die Gesandtschaft in Bangkok. Nach kurzer Unterbrechung stand er seit 1951 wieder im diplomatischen Dienst.
Auf von Wendland folgte bis November 1965, also in der Anfangszeit der direkten US-Aggression⁴, Günther Schlegelberger. Nach Studien an der Berliner Humboldt-Universität und von 1937 bis 1939 an der hauptstädtischen Universität des faschistischen Horthy-Ungarns war er von 1940 bis 1942 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Ribbentrops Auswärtigem Amt tätig. Sein Vater Franz Schlegelberger stand in jener Zeit an verantwortlicher Stelle der Nazijustiz. Von 1931 an und, vom Hitlerregime übernommen, noch bis 1941 war er Staatssekretär im Reichsjustizministerium. 1941/42 fungierte er als kommissarischer Reichsminister der Justiz.⁵ Günther Schlegelberger gehörte ab 1943 in höherem Offiziersrang der Wehrmacht an. Wie von Wendland wurde er 1951 wieder in den auswärtigen Dienst aufgenommen.
In besonderer Mission weilte Hans Schmidt-Horix Ende März 1966 in Saigon. Er war 1934 der Reiter-SS beigetreten und brachte es zum Untersturmführer. Ab 1935 als Attaché dem Auswärtigen Amt zugehörig, war er von 1937 bis 1942 an den Botschaften in Lissabon und als Legationsrat in Washington tätig. 1942/43 Offizier des faschistischen Afrikakorps, wurde er 1944 Legationssekretär an der Nazibotschaft in Italien. Schmidt-Horix durfte 1952 wieder den diplomatischen Dienst antreten. Seine besondere Mission bestand darin, Verhandlungen mit dem Saigoner Außenminister über den Einsatz des westdeutschen Lazarettschiffs »Helgoland« zu führen, das von September 1966 bis Ende 1972 in den Häfen von Da Nang und Saigon unter Rotkreuzflagge agierte, aber dem BRD-Militärattaché in Saigon unterstand, dem ehemaligen Wehrmachtsoberstleutnant Joachim Tzschaschel.
Schlegelbergs Nachfolger im Amt des Botschafters wurde – nach zeitweiliger Leitung der Mission durch einen Geschäftsträger – von 1966 bis Oktober 1968 in der Person von Wilhelm Kopf wieder ein Mann mit ausgewiesener Nazivergangenheit. Ab 1933 für einige Jahre Angehöriger der SA, wurde Kopf Anfang 1938 NSDAP-Mitglied. Im Oktober 1940 trat er den Dienst in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes an. Ab April 1941 war er verantwortlicher Mitarbeiter der dortigen Nachrichten- und Presseabteilung. Deren Leiter und damit Pressechef Ribbentrops war während der Kriegsjahre Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt.⁶ Ab Mai 1941 fungierte Kopf als Vertreter des Auswärtigen Amtes bei der Abteilung Wehrmachtpropaganda des Oberkommandos der Wehrmacht. Ab Februar 1942 Ausbilder in der »Aserbaidschanischen Legion«⁷, einer aus nichtrussischen Kriegsgefangenen und Überläufern rekrutierten Söldnerformation der Naziwehrmacht, war er in der Folge wieder unter Schmidt tätig, bevor er im Juni 1944 in der Botschaft in Ankara für die »Bearbeitung von Presseangelegenheiten« zuständig wurde. Ab Juni 1952 stand er im auswärtigen Dienst der Bundesrepublik.
Auf Kopf folgte im November 1968 bis Ende 1974 Horst von Rom. Der promovierte Jurist (1934) war von 1937 bis 1945 verantwortlicher Mitarbeiter einer anfangs unverfänglich »Forschungsamt« und ab 1935 pro forma »Forschungsamt der Luftwaffe« genannten Einrichtung und war ab 1943 bis zum Schluss an das Auswärtige Amt abkommandiert. Bei diesem »Forschungsamt« handelte es sich um einen im April 1933 von Hermann Göring für »technische Aufklärung« geschaffenen Spionagedienst, der ab 1935 von SS-Sturmbannführer Christoph Ernst August Prinz von Hessen geleitet wurde. Es überwachte Telefonate, Fernschreiben und Telegramme mit dem Ziel der Ausschaltung von Antifaschisten. Horst von Rom konnte sich ab 1953 der Zugehörigkeit zum auswärtigen Dienst der Bundesrepublik erfreuen.
Erst mit dem Amtsantritt von Heinz Dröge im November 1974 endete die Präsenz erheblich belasteter Nazis auf dem Botschafterstuhl in der Saigoner Straße Pho Vo Thang 217. Der ehemalige Luftwaffenleutnant setzte sich am 24. April 1975 mit dem Botschaftspersonal nach Bangkok ab.
DDR: Partisanen und Widerständler
Wie sah es dagegen in der Hanoier Straße Pho Tran Phu 29 aus, dem Sitz der DDR-Botschaft? Der erste akkreditierte Botschafter der DDR, der am 30. August 1955 seinen Dienst antrat und bis 1959 amtierte, war der Arbeitersohn Rudolf Pfützner, ab 1928 Mitglied der KPD. 1933 wegen antifaschistischer Widerstandsarbeit zeitweise in »Schutzhaft« genommen und 1934 erneut verhaftet, wurde er im April 1935 in Dresden zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Waldheim war eine Haftstation. 1941 als Leiter einer Leipziger Widerstandsgruppe wieder verhaftet, folgte im Jahr darauf das auf 15 Jahre Zuchthaus lautende Urteil von Freislers Volksgerichtshof. Er durchlitt abermals Waldheim und gehörte 1945 zu den Überlebenden des KZ Mauthausen.
Der als Schriftsteller bekannt gewordene Eduard Claudius hatte nach Pfützner bis 1961 das Amt des Botschafters in der DRV inne. Geboren als Sohn eines Bauarbeiters, wurde er Maurer und in den 1920er Jahren aktiver Gewerkschafter und Arbeiterkorrespondent im Ruhrgebiet. Stationen: Drei Jahre Westeuropa-Wanderschaft, 1932 Mitglied der KPD, 1933 zeitweise Haft, 1934 Emigration in die Schweiz, 1936 wegen antifaschistischer Arbeit Verhaftung durch die Schweizer Behörden, wegen drohender Auslieferung an Nazideutschland Flucht nach Spanien. Claudius kämpfte zuletzt als Kriegskommissar in den Reihen der Internationalen Brigaden und wurde 1938 mit vielen Interbrigadisten in Frankreich interniert. 1939 wieder von Auslieferung bedroht, gelang die Flucht zurück in die Schweiz. Wegen illegalen Aufenthalts abermals verhaftet, folgte 1939 bis 1945 Internierung in Schweizer Arbeitslagern. Anfang 1945 schloss er sich der italienischen Partisanenbrigade Garibaldi an. Im Juli 1945 kehrte er nach Deutschland zurück. Dass er bis 1947 als Pressechef eines bayrischen Ministeriums für Entnazifizierung fungierte und 1948 in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) übersiedelte, sei am Rande erwähnt.
Das Amt des Botschafters übernahm von ihm bis 1963 Karl Nohr. Er war 1923 dem Kommunistischen Jugendverband (KJVD) und der KPD beigetreten. Von 1930 bis 1933 leitete er eine »Liga für Mutterschutz und soziale Hygiene« in Magdeburg. 1933 nach Frankreich emigriert, wurde er Mitarbeiter des Sexualforschers Professor Magnus Hirschfeld bis zu dessen Tod 1935 und danach politischer Mitarbeiter der Internationalen Roten Hilfe in Frankreich. Auf die Internierung von 1939 bis 1942 folgte bis Januar 1945 Dienst in der britischen Armee. Im Oktober 1945 kehrte er nach Deutschland zurück.
Bis 1968 bekleidete schließlich Wolfgang Bergold das Amt des Botschafters der DDR in der DRV. Bis zur Relegation 1933 studierte das Mitglied des KJVD an der Technischen Hochschule Dresden Volkswirtschaft, Russisch und Chinesisch. Er hatte 1930 zu den Gründern des Sozialistischen Schülerbundes gehört und wurde dann Mitglied der Freien Sozialistischen Studentenschaft. EinJahr Haft verbrachte er 1933/34 im KZ Hohnstein.⁸ Wegen illegaler Arbeit Ende 1934 erneut verhaftet und wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« verurteilt, war er 1935/36 in Dresden und im KZ Sachsenburg inhaftiert. Bergold gehörte zu den Organisatoren einer Dresdner Widerstandsgruppe, wurde 1941 in Dresden abermals verhaftet und im März 1942 vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Außer mehreren Monaten Zwangsdienst im berüchtigten Strafbataillon 999 im Jahr 1943 wurde er bis 1945 im Zuchthaus Waldheim gefangengehalten. 1945 wurde er Mitglied der KPD.
Nach Bergold hatte bis 1972 ein jüngerer Mann das Amt des Botschafters inne, Klaus Willerding. Als wehrpflichtiger Soldat 21jährig 1944 in sowjetische Gefangenschaft geraten, besuchte er von 1946 bis 1948 eine Antifa-Schule, eine der ab 1942 für deutsche Kriegsgefangene eingerichteten Frontschulen. 1949 folgte die Unterrichtung an der Antifa-Zentralschule im Gefangenenlager Krasnogorsk unweit Moskaus, in dem 1943 von deutschen Antifaschisten und gefangengenommenen oder desertierten Wehrmachtsangehörigen das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) gegründet worden war.
Es versteht sich von selbst, dass auch der spätere stellvertretende Außenminister Johannes König, der 1954 von Beijing aus den diplomatischen Kontakt der DDR zur DRV zu knüpfen hatte, auf eine von aufopferungsvollem antifaschistischen Kampf in den Reihen der KPD und vielfacher Verfolgung geprägte Vergangenheit an der Seite seiner jüdischen Frau mit jahrelangem politischen Wirken ab 1939 im chinesischem Exil zurückblicken konnte.
Kein Schuldeingeständnis
23. September 1975. Die Demokratische Republik Vietnam (DRV) nach 20 Jahren massiver Unterstützung der Spalter Vietnams plötzlich als rechtmäßiges Vietnam mit der Hauptstadt Hanoi wahrgenommen zu haben, das können nur sträflich Gutgläubige als Zeichen quasi über Nacht gewonnener Einsicht Bonns werten, einem blutgetränkten Irrweg gefolgt zu sein. Es gab andere Gründe. Für das bundesdeutsche Kapital roch es jetzt nach einer unerwarteten, Profit verheißenden Chance. Und es war für Hallsteins Erben unvorstellbar, der dort hoch angesehenen DDR allein das Feld im nun wieder geeinten Vietnam zu überlassen. Bonn aber hinderte sich selbst daran, möglichst schnell zum Zuge zu kommen. Mit dem Ende des Krieges begann, was bis Anfang der 1990er Jahre währen sollte: eine rigorose Embargopolitik der gedemütigten USA gegenüber Vietnam. Bonn folgte gehorsam. Zwar wurde im April 1976 in einem Hanoier Hotel eine Botschaft etabliert, und im Juli rückte noch der erste bundesdeutsche Botschafter an. Dann aber endete der Alleingang, standen die diplomatischen Beziehungen jahrelang nur auf dem Papier. Vietnam schickte 1982 seinen Außenminister nach Bonn; die bundesdeutsche Öffentlichkeit erfuhr von dem erfolglosen Good-will-Trip nichts. Erst als Anfang der 1990er Jahre ein Kontakt zwischen Washington und Hanoi zustande kam, regte sich auch Bonn wieder. Im April 1993 kreuzte Außenamtschef Klaus Kinkel am Roten Fluss auf, sein absonderlicher Auftrag nach 18 Jahren Beziehungen: die Lage »sondieren«.
Bleibt anzumerken: Bis heute fehlt, was Bonns bzw. Berlins Sache nicht ist: das Eingeständnis schwerwiegender Mitschuld an millionenfachem Tod und großflächiger Zerstörung eines Landes. Das gab es anlässlich des vor allem von ökonomischem Eigennutz diktierten Neuanfangs nicht und nicht später bei der Begründung der sogenannten Strategischen Partnerschaft. So konnte man in Bonn und kann man auch heute in Berlin noch von Glück reden, dass mit milliardenschweren Forderungen verbundene Schuldzuweisungen von Hanoi nie zu befürchten waren. Auch wenn man sich hüten sollte zu glauben, Vietnam werde derlei vergessen.
Anmerkungen:
1 Auf der Konferenz waren die UdSSR, Frankreich, Großbritannien, China, die USA, die DRV, die Bao-Dai-Verwaltung des vormaligen vietnamesischen Kaisers sowie die Königreiche Laos und Kambodscha vertreten.
2 Kaiser Bao Dai hatte sich nach seiner Entmachtung 1945 ins Ausland abgesetzt und lebte bis 1949 im französischen Exil.
3 Der katholische Geistliche Ngo Dinh Diem, einst Berater am Hofe Bao Dais, lebte später in Japan, kehrte im Zweiten Weltkrieg nach Vietnam zurück, kollaborierte mit den japanischen Besatzern und lebte dann bis 1953 in den USA.
4 Nach dem Einsatz Tausender »Militärberater« bei der Saigoner Armee begann mit der Entsendung der ersten Kampftruppen im Februar 1965 die direkte Aggression der USA.
5 Franz Schlegelberger wurde 1947 im Nürnberger Juristenprozess, einem der zwölf Nachfolgeprozesse im Anschluss an die Verhandlung gegen die Hauptkriegsverbrecher, von einem USA-Militärgericht zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, aber schon im Januar 1951 wegen »Haftunfähigkeit« aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg entlassen.
6 Schmidt, auch Paul Carell, war seit 1931 Mitglied der NSDAP und der SA. Als Psychologiestudent in Kiel leitete er einen »Kampfausschuss wider den undeutschen Geist«. Am 10. Mai 1933 war der Burschenschafter studentischer Redner bei der Bücherverbrennung in Kiel. 1935/36 war er »Gaustudentenführer« in Schleswig-Holstein. In den 1950er Jahren Journalist bei Die Zeit und Der Spiegel tätig, machte er dann Karriere im Springer-Verlag. Bis zu Axel Springers Tod 1985 war Schmidt dessen persönlicher Berater und Sicherheitschef.
7 Die »Aserbaidschanische Legion« war Teil der »Ostlegionen« der faschistischen Wehrmacht, für die schon ab 1941 Angehörige von Minderheitenvölkern der Sowjetunion für »Sicherungsaufgaben im besetzten Gebiet« angeworben wurden. Ihnen gehörten mindestens 40.000 Kriegsgefangene und Deserteure an.
8 Bewacht von SA-Schlägern aus Pirna, war die Jugendburg Hohnstein von März 1933 bis August 1934 eines der ersten Konzentrationslager. Etwa 5.600 Antifaschisten hatten teils schwerste Zwangsarbeit in einem nahen Steinbruch zu verrichten.
Hellmut Kapfenberger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. April 2025 über die Einnahme Saigons im April 1975: »Friedlicher Schlussakt«
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- picture alliance / SZ Photo04.07.2025
»Asien steht an der Elbe«
- Photo12/Photosvintages/imago12.04.2023
Unter falscher Flagge
- Paul Almasy/akg-images/picture alliance22.09.2020
Verdrängte Vorgeschichte