Fortgeschrittene Saxofonitis
Von Andreas Schäfler
Himmel, hilf! Gibt es denn einfach kein Entrinnen vor John Coltrane bzw. den notorischen Huldigungen junger Jazz-Saxofonisten an den Gottübervater auf diesem Instrument? Nach »Beat Up«, dem freejazzig-muskulösen Intro von Leader Maurice Storrer am Tenorsax und seinem Schlagzeuger Aaron Leutenegger wird auf »Foureign Language« fast durchgängig der Geist von Coltranes Goldstandard-Quartett mit McCoy Tyner heraufbeschworen. Und wie ihre Kollegen verfügen auch Pianist Jacob Sur und Marius Sommer am Kontrabass tatsächlich schon über taugliche Mittel, um sich auf diesem hohen Level zu exponieren. An Frösche, die sich im Milchglas so lange abstrampeln, bis ein Klumpen Butter sie vor dem Absaufen bewahrt, erinnert auf dem Debütalbum der vier jungen Schweizer rein gar nichts mehr.
Storrers Band prescht als entschlossenes Kraftpaket durch das energetische »Aiming High«, wagt sich in »Night Out Walk« aber auch mal gemessenen Schrittes in eine undefinierte Finsternis vor und macht die »Foureign Language«, bei allem Respekt vor der Jazztradition, ziemlich unverblümt zu ihrer eigenen. So wach und erfinderisch wie Storrer, der alle sechs Stücke des Albums geschrieben hat, auf dem Saxofon phrasiert, also faucht und flüstert und gurgelt und röhrt, ist er – Coltrane hin oder her – schon mal eins mit seinem Instrument. Und seinem Repertoire. Und seinem Quartett. Wenn diese vier hervorragenden Musiker zusammen weitermachen, ist fast zwangsläufig bald mit einem noch größeren Wurf zu rechnen – und mit einem weiteren eigenständigen Dialekt in der Weltsprache des Jazz.
Einen solchen praktiziert schon seit geraumer Zeit das Quartett des US-Amerikaners James Brandon Lewis. Dieser Tenorsaxofonist ist nur wenig älter als Storrer, behauptet mit seinen Begleitern Aruán Ortiz (Piano), Brad Jones (Kontrabass) und Chad Taylor (Schlagzeug) jedoch schon eine bewundernswerte Kontinuität bei hohem Output. 2020 haben die vier mit dem Album »Molecular« einen echten Meilenstein des zeitgenössischen Jazz vorgelegt, und auf »Abstraction is Deliverance« wird das einmal erreichte Niveau sogar noch ausgedehnt. Auch Lewis hat seinen Coltrane durchdrungen, doch die Intensivtäter Albert Ayler, David Murray und der früh verstorbene Solitär David S. Ware sind ebenfalls nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.
Lewis’ Quartett pflegt einen strengen, fast klassisch anmutenden Gestus und ist einer intellektuellen Spiritualität verpflichtet, die einem durchaus was abverlangt. Höchste Konzentration bei allen Beteiligten, aber sie wissen sie – und hier liegt der Zauber – unangestrengt auszuspielen. Jeder der vier ist woanders zugange, und doch stellt sich eine verblüffende Synchronizität her. So geht kammermusikalischer Gegenwartsjazz ohne Hochstapelei. Dem Leader ist natürlich hochgradig bewusst, wem er seine Preziosen da auf den Leib komponiert: Die Statiker Jones und Taylor fangen seine Ideen schon im Ansatz auf und schaukeln sie gekonnt durch die abstrakten musikalischen Gefilde, die auch von Ortiz ausgesprochen ökonomisch erforscht werden. Selten einen kubanischen Pianisten gehört, der so zurückhaltend unkaribisch spielt. James Brandon Lewis hat immer viel Luft im Instrument und kann auch gern mal hymnisch werden. Aber mehr noch interessiert ihn, was kurz vor der Ekstase passiert. Oder kurz vor dem Verstummen. Und intoniert dann zum Beispiel ein paar Takte lang so etwas wie … Insektenbrummen.
Befreiung durch Abstraktion? Klingt wie ein Postulat aus der höheren Mathematik. Wer dieses Level erreicht, heißt es, sei dann der reinen Schönheit ausgesetzt. Beim Zuhören ein bisschen was davon abzubekommen und daran zu schnuppern, ist auch schon was. Für das Booklet von »Abstraction is Deliverance« hat der Schriftsteller Teju Cole eine mit leichter Hand skizzierte Erzählung beigesteuert, die so beginnt: »Als ich aufwachte«, sagte er, »vergaß ich für einen Moment, wo ich war.«
Eine gute Ausgangslage, um sich diese beiden Alben zu Gemüt zu führen. Hitzig wird es bei der Saxofonitis von James Brandon Lewis nur selten, aber für den jugendlichen Übermut haben wir vorerst ja noch diesen Maurice Storrer.
Maurice Storrer Quartet: »Foureign Language« (Unit Records/Broken Silence)
James Brandon Lewis Quartet: »Abstraction is Deliverance« (Intakt Records)
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