Es gibt kein »Weiter so«
Von Jakob Reimann
Erik Zabel« war mit fettem Edding auf mein T-Shirt gekritzelt, als wir in den Sommerferien fast täglich mit dem kühlen Nass vor Augen zum wenige Kilometer entfernten See radelten. Jahre später fiel der »Sprinterkönig« unter Tränen in Dopingungnade und ließ unsere so unschuldige Welt in Trümmern zurück. Unschuldig ist hier und heute überhaupt nichts mehr, und Trümmer sehen wir täglich in den Horrorvideos aus Gaza. Und weil westliche Staatenlenker sich weigern, ihre Komplizenschaft am Völkermord zu beenden, begreifen Solidarische zunehmend auch Sportevents wie die Vuelta a España als Kampfgebiet gegen das Netanjahu-Regime und seine europäischen Verbündeten. Wenn den Regierenden palästinensisches Leben schon nicht schützenswert ist, dann vielleicht die vermeintlich heile Welt hier zu Hause.
Am Sonntag musste die letzte Etappe der Vuelta nach Blockaden Tausender propalästinensischer Aktivisten abgebrochen werden. Grund war die Teilnahme des Teams Israel-Premier Tech (IPT) des israelisch-kanadischen Milliardärs Sylvan Adams, der sich selbst als Zionist bezeichnet und ein persönlicher Freund des vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchten Benjamin Netanjahu ist. Adams selbst zieht die Verbindung zu Staat und Politik, wenn er sich als »selbsternannten Botschafter für Israel« bezeichnet. Die Arbeit seines Teams begreift er als »Gegenmittel zu BDS«, und auch seine Fahrer nennt er »Botschafter«. Adams hat große Geldsummen an die israelischen Streitkräfte gespendet und deren Vorgehen in Gaza begrüßt. Netanjahu lässt sich gern mit Adams ablichten und postet freundschaftlich über ihn und sein Team. IPT gilt unter Kritikern als PR-Arm der israelischen Regierung und somit als Paradebeispiel für Sportswashing israelischer Verbrechen.
Es mag richtig sein, dass die Vuelta-Proteste Unmut und Wut bei Fans und Fahrern ausgelöst haben und auch in der breiten Bevölkerung für Unverständnis sorgten. Sie alle würden in Kollektivhaftung für das verbrecherische Verhalten von Regierungen genommen, heißt es von Kritikern. Der palästinensischen Sache sei ein Bärendienst erwiesen worden. Das mag plausibel klingen, doch verkennt es die zugrundeliegende Strategie: Nicht die Erlangung von Sympathien der schweigenden Massen ist das primäre Ziel der Aktivisten, sondern die Disruption des schönen Lebens in Europa. In der Ära des Völkermords kann es kein entspanntes »Weiter so« geben.
Denn da weder die Bilder brennender Krankenhäuser noch die brennender Kinder es vermögen, das Selbstbild europäischer Komplizen als moralisch substantiell zu ramponieren und in Handlungen zu übersetzen, muss auch im Westen die materielle Basis dieses schönen Lebens ins Visier genommen werden. Die Reflexe und Strategien, um dieses von all dem Elend auf der Welt hermetisch abzuschirmen, wurden über Jahrzehnte perfektioniert. Brot und Spiele tun ihr übriges – beides muss als Ziel begriffen werden, um den fetten, faulen Europäer aus seiner Komfortzone zu treiben. Anfang der Woche haben die Hafenarbeiter in Genua mit Generalstreik gedroht, sollte es das Netanjahu-Regime wagen, die rund 50 Schiffe der Global Sumud Flotilla – die Israels Hungerblockade gegen Gaza zu durchbrechen sucht – aufzuhalten. Das Lahmlegen des wichtigsten Hafens des Landes würde Italiens Volkswirtschaft hart treffen und auf dem gesamten Kontinent schmerzhafte ökonomische Auswirkungen haben. Schon in den frühen 1970ern hat Genua den USA die Verladung von Waffen für ihr Gemetzel in Vietnam verwehrt, und die kämpferischen Genossen machen fünf Jahrzehnte später erneut klar, dass die reale Macht immer in den Händen der arbeitenden Klasse liegt.
Neben dem Brot müssen zunehmend die Spiele zum Ziel werden: Die Vuelta kann hier nur der Anfang sein. Denn wenn sich die Mächtigen in Europa, insbesondere in der BRD, weigern, das Ende des Völkermords zu erwirken, dann muss dieser auch hierzulande schmerzhaft spürbar werden. Wenn Investoren wegen sabotierter Spitzenspiele ihre Milliardeninvestments in die Goldgruben der europäischen Fußballigen in Gefahr sehen, wird es wütende Anrufe in Berlin, London, Paris und Madrid hageln. Am Sonntag findet der Berlin-Marathon statt. Lahmlegen von Sportevents kann in breitere Strategien eingebettet werden. Parlamentsdebatten und öffentliche Veranstaltungen von Politikern und Industriellen können gestört werden. Auch der reibungslose Ablauf von Theatervorstellungen, Kinofilmen und Konzerten ist nicht garantiert. Hörsaalbesetzungen, Serverüberlastungen durch koordinierte Anfragenfluten, friedliche Blockaden des Springer-Hochhauses oder von Rheinmetall-Werken, digitale Blockaden, Störungen von Aktionärsversammlungen oder Veranstaltungen der oberen Zehntausend – rote Teppiche sind Protestbühnen, die eingenommen werden wollen.
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