Gezielte Kampagne
Von Christian Bunke
Aus der Asche der Ära von Jeremy Corbyn als Labour-Parteichef (2015–2020) scheint in Großbritannien derzeit eine neue linke Partei aufzusteigen. Bis zu 800.000 Menschen sollen über die Sommermonate hinweg ihr Interesse an einer möglichen Mitgliedschaft bzw. an weiteren Informationen über kommende Veranstaltungen auf der Homepage yourparty.uk bekundet haben. Seit Januar 2019, als die von Corbyn geführte Labour Party eine schwere Niederlage durch Boris Johnsons Konservative einstecken musste, hat es einen derartigen Aufbruch im Vereinigten Königreich nicht mehr gegeben. Mit diesem neuen Aufbruch verbindet sich auch die Notwendigkeit des Rückblicks auf das noch immer nicht aufgearbeitete Scheitern des Corbynschen sozialdemokratischen Reformprojekts innerhalb der Labour-Partei.
Eine solche politische Aufarbeitung wird für die kommende neue Partei – sollte sie sich wirklich konstituieren – nötig sein. Denn der neue Aufbruch findet unter verschärften Bedingungen statt: Mit der Partei »Reform UK« von Nigel Farage gibt es eine konsolidierte extrem rechte Kraft, ähnlich der AfD in Deutschland, die derzeit in allen Meinungsumfragen führt. Auch auf der Straße war die extreme Rechte mit einschüchternden Protesten vor Flüchtlingsunterkünften präsent, tatkräftig unterstützt durch eine immer stärker ins Autoritäre abdriftende Medienlandschaft. Diesen Mobilisierungen stellten sich zwar immer wieder Aktivistinnen und Aktivisten aus Nachbarschaftsinitiativen, Gewerkschaften und antifaschistischen Gruppen entgegen. Dennoch reißt die extreme Rechte in Großbritannien zunehmend die Meinungsführerschaft im Land an sich.
Die regierenden Sozialdemokraten unter Premierminister Keir Starmer setzen dem nichts entgegen. Im Gegenteil bekunden deren Führungskräfte in Interviews ihre Liebe zur englischen und britischen Nationalfahne, während sie die Repression gegen die stark migrantisch geprägte Solidaritätsbewegung mit Palästina immer weiter steigern – zuletzt durch das groteske Verbot der im Bereich des zivilen Ungehorsams agierenden Aktionsgruppe »Palestine Action« als terroristische Vereinigung.
Vorwurf Antisemitismusimport
Die politische Repression gegen bereits im Land befindliche Migranten hat eine Entsprechung in einer menschenverachtenden Politik gegen Einwanderung von außen. Während Farage in Reden und Interviews »Massenabschiebungen jetzt!« fordert, setzt die sozialdemokratische Politik dies bereits in die Tat um. In Interviews erklärte Starmer, er verstehe den Ärger über die »irreguläre Masseneinwanderung« und werde die »Ordnung« an den Grenzen wiederherstellen. Am 30. August schrieb Starmer auf der Plattform X: »Wer den Ärmelkanal illegal überquert, wird festgenommen und zurückgeschickt.« Damit übernimmt Labour das ausländerfeindliche Narrativ von Farages »Reform UK« sowie den rechten Slogan »Stop the Boats«.
Auf der politischen Metaebene ist diese ausländer- und migrationsfeindliche Politik immer wieder mit einem angeblichen »Kampf gegen den Antisemitismus« verbunden. Zeitungen, Fernsehen und Politiker aller großen britischen Parteien verbreiten eine Erzählung, wonach dieser Antisemitismus vor allem durch eingewanderte Muslime auf der Insel verbreitet werde. Dadurch wird der heimische, in Großbritannien über Jahrhunderte gewachsene Antisemitismus, den es auf der Insel seit dem ausklingenden Mittelalter gibt, ignoriert und externalisiert.
Auch dem Verbot von »Palestine Action« ging eine Kampagne durch bürgerliche und rechtsgerichtete jüdische Gruppen – auch aus dem Umfeld der Sozialdemokratie – voraus, in welcher dem Bündnis Antisemitismus unterstellt wurde. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie die »Campaign against Antisemitism« strichen außerdem den »unpatriotischen« Charakter von »Palestine Action« hervor. Die Gruppe müsse unter anderem deshalb verboten werden, weil sie Infrastrukturen des britischen Militärs angegriffen und damit »unsere Helden, die jeden Tag unsere Sicherheit gewährleisten«, gefährdet habe, heißt es in einem Statement der NGO von Juni. Ähnlich begründete im selben Zeitraum auch Farage seine Forderung nach einem Verbot von »Palestine Action«.
Das Framing von palästinasolidarischem Aktivismus als antisemitischen und unpatriotischen Akt richtet sich auch direkt gegen die gesamte politische Linke Großbritanniens. Denn genau dieses Framing war eine Hauptmethode, mit welcher Corbyn und seine Unterstützer in der Labour-Partei zuerst neutralisiert und schließlich ausgeschlossen wurden. Innerhalb der britischen Arbeiterklasse trug es zu einer Polarisierung bei, deren Folgen heute auch im Unterhaus sichtbar sind. Konkret lässt es sich beispielsweise an den parlamentarischen Unterstützern der neuen geplanten Partei festmachen, etwa an der jungen Abgeordneten Zarah Sultana, die laut eigener Aussage zunächst durch den vom ehemaligen sozialdemokratischen Premierminister Tony Blair mitinitiierten »Krieg gegen den Terror« sowie später durch einen Besuch des Gazastreifens politisiert wurde. Sultana ist Gewerkschafterin, Muslimin und Frau. Damit erfüllt sie fast alle Feindbilder der extremen Rechten. Doch sie und Corbyn sind im Unterhaus nicht allein.
Widerstand gegen Faschisierung
Derzeit existiert im britischen Unterhaus eine Gruppe von sechs unabhängigen Abgeordneten, einschließlich Sultana und Corbyn. Corbyn hatte aufgrund seines Ausschlusses aus der Labour-Partei bei den letzten Parlamentswahlen bereits als Unabhängiger kandidiert. Sultana stieß nach ihrer Suspendierung aus der Parlamentsfraktion hinzu, nachdem sie sich zuvor gegen Sozialabbau und das Verbot von »Palestine Action« durch die sozialdemokratische Regierung ausgesprochen hatte. Vier weitere Abgeordnete hatten bei den jüngsten Wahlen zum Unterhaus als Unabhängige kandidiert. Es handelt sich bei ihnen um Muslime, die ihre Opposition zur uneingeschränkten Solidarität der britischen Regierung mit dem israelischen Staat, der im Gazastreifen einen Genozid begeht, mit linken sozialpolitischen Programmpunkten verbanden. Ihre Präsenz im Unterhaus zeigt, dass die Labour-Partei aufgrund ihres Rechtskurses nicht mehr uneingeschränkt auf die Stimmen der migrantischen Teile der lohnabhängigen Bevölkerung zählen kann.
Corbyn selbst schrieb unlängst in einem Grundsatzartikel für das linksreformistische Onlinemagazin Tribune, Labour sei heute ein »Wegbereiter des Faschismus« – eine Ansicht, die von Zarah Sultana geteilt wird. Die Angriffe der sozialdemokratischen Regierung auf Asylsuchende, Menschen mit Behinderungen und trans Personen seien deutliche Anzeichen einer schleichenden Faschisierung, der es mittels einer neuen linken Partei zu begegnen gelte, so Corbyn.
Es wirkt fast wie ein Befreiungsschlag für einen Menschen, der sich in seiner Funktion als sozialdemokratischer Oppositionsführer zwischen den Jahren 2015 und 2020 immer wieder mit rechten Kräften aus den eigenen Reihen konfrontiert sah. Er versuchte ihnen meistens mit Kompromissangeboten zu begegnen, doch Corbyns Gegner hatten daran kein Interesse. Insbesondere die Mehrheit der sozialdemokratischen Unterhausfraktion stand schon damals für ein rechtes Projekt, welches Repressionen gegen Asylsuchende, systematische Diskriminierung von vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen sowie die Militarisierung aller Lebensbereiche als wesentliche Eckpunkte hatte. Den Kräften um Premierminister Keir Starmer geht es um eine Revitalisierung des nationalistischen britischen Unionismus. Entsprechend steht der Feind dieser britischen Sozialdemokratie links.
Darüber zu sprechen, wie die britische Sozialdemokratie der extremen Rechten zuarbeitet und selber dazu beiträgt, rechte Sprachbilder und Themenfelder in der Öffentlichkeit zu normalisieren, heißt nicht, einer Sozialfaschismustheorie das Wort zu reden. Allerdings ist es wichtig, den historischen Wurzeln des heutigen Agierens der Labour-Partei nachzuspüren. Das bedeutet, den Platz der britischen Sozialdemokratie als Verwalterin des kolonialen Erbes Großbritanniens zu analysieren und auch, wie sie sich historisch immer wieder bemüht hat, diesem ein progressives Gesicht zu verleihen.
Der Hass auf Corbyn
Corbyn wurde als Oppositionsführer nicht nur bekämpft, weil er eine keynesianistische Reichtumsumverteilung in Großbritannien anstrebte. Sowohl die Mehrheit seiner eigenen Parlamentsfraktion als auch die damals regierenden Konservativen sowie die große Mehrheit der Medienlandschaft bis weit ins liberale Spektrum hinein attackierten Corbyn, weil dieser zentrale Mythen des britischen Nationalismus offen hinterfragt. Eine der größten Wellen des Hasses gegen Corbyn ging los, als dieser im Rahmen sozialdemokratischer Wahlprogramme eine kritische Aufarbeitung der britischen Kolonialgeschichte im Schulunterricht forderte.
Interessant daran war, dass in diesem Hass zwei Themenkomplexe miteinander verbunden wurden. Einerseits wurde Corbyn seine antikoloniale Haltung und zugleich damit seine Klassenhaltung vorgeworfen. Diese Kritik wurde kombiniert mit dem Vorwurf eines angeblich systemischen Antisemitismus, welchen Corbyn und seine Verbündeten innerhalb der Labour-Partei während ihrer Amtszeit gezielt gefördert hätten: eines Antisemitismus, den es laut der Darstellung in britischen und internationalen Medien in dieser Form weder vor Corbyns Zeit als Parteichef noch nach seiner Absetzung durch den rechten Flügel des Parteiapparats gegeben habe. Eines Antisemitismus also, der erst durch Corbyn und seine angeblich linksradikale Anhängerschaft von außen in die Partei hineingetragen worden sei.
Die gegen Corbyn und andere linke Sozialdemokraten erhobenen Vorwürfe waren erbarmungslos und wurden ohne Pause vorgetragen. Kein Tag verging ohne Skandalisierung neuer tatsächlicher oder scheinbarer antisemitischer Äußerungen von Labour-Parteimitgliedern in der konservativen Presse. Kaum eine parlamentarische Fragestunde im Unterhaus, in welcher sowohl die konservative Fraktion als auch rechte sozialdemokratische Hinterbänkler nicht den angeblich grassierenden Antisemitismus in der Partei skandalisierten.
Zum Kern der Antisemitismusvorwürfe wurde Corbyns palästinasolidarische Haltung, welche im Sinne der damals noch neuen IHRA-Definition (2016 nahm die International Holocaust Remembrance Alliance eine »Arbeitsdefinition Antisemitismus« an; jW) als antisemitisch gedeutet wurde. Außerparlamentarischer Druck kam vom »Board of Deputies of British Jews«, einer seit 1760 in Großbritannien existierenden Organisation des jüdischen Bürgertums, welcher die Rolle als Sprachrohr der jüdischen Gemeinschaft in Großbritannien zugedacht wird. Der Kampf gegen den Antisemitismus erhält so seinen staatstragenden Gehalt, während soziale Kämpfe der Arbeiterbewegung diskreditiert werden. Bis heute verbreiten konservative Abgeordnete im britischen Unterhaus die falsche Behauptung, linker Antifaschismus sei im Kern historisch immer eine antisemitische Bewegung gewesen.
Das Lager um Corbyn konnte damals diesen Angriffen nichts entgegensetzen. Bemühungen, die Prozeduren rund um die Verfolgung rassistischer und antisemitischer Vorfälle in der Labour Party nachzuschärfen und zu beschleunigen, scheiterten an der aktiven Sabotage des Parteiapparats, welcher ein Interesse daran hatte, das Thema am Kochen zu halten. Treffen von Corbyn mit dem bürgerlichen »Board of Deputies of British Jews« wurden von letzterem und der Presse nur dazu benutzt, Corbyn weiterhin Unzulänglichkeiten und mangelndes Interesse bei der Bekämpfung des Antisemitismus vorzuwerfen.
Wenn Corbyn wiederum Veranstaltungen von explizit linken jüdischen Gruppierungen besuchte, wie zum Beispiel der Londoner Gruppe »Jewdas« oder der Organisation »Jewish Voice for Labour«, wurde auch dies nur als weiterer Anlass für Unterstellungen genutzt. Schließlich stünden diese jüdischen Gruppen aufgrund ihrer Kritik am israelischen Staat selbst im Verdacht, jüdisch-antisemitische Organisationen zu sein. Wie auch im deutschsprachigen Raum gesteht der mediale Mainstream in Großbritannien der jüdischen Community in Sachen Palästina/Israel keine Meinungspluralität zu.
Klassenwidersprüche
Dies geht mit einer Ignoranz gegenüber Klassenunterschieden und der durchaus sehr verschiedenen Familien- und Einwanderungsgeschichten innerhalb der jüdischen Community einher. Auch religiös-theologische und philosophische Unterschiede innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Großbritannien werden bewusst verwischt und ignoriert. Die bürgerliche Öffentlichkeit duldet nur ein zionistisches Judentum. Damit wird die jüdische und proletarische Widerstandsgeschichte in Großbritannien unsichtbar gemacht. Dabei waren es gerade jüdische linke, bündische, kommunistische und anarchistische Gruppen und Organisationen, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gegen die Unterstützung von Einwanderungsbeschränkungen durch große Teile der damaligen Gewerkschaftsbewegung in Wort und Schrift zur Wehr setzten.
Diese Beschränkungen wurden damals vom britischen Staat eingeführt, um aus Osteuropa vor antisemitischen Pogromen flüchtende Juden an Großbritanniens Außengrenzen abzuweisen. Britische Gewerkschaften und relevante Teile der Labour-Partei befürworteten diese Beschränkungen damals mit dem Argument, Arbeitsplätze in Großbritannien für einheimische Lohnabhängige sichern zu wollen. Das gesamte heutige migrationsfeindliche Grenzregime Großbritanniens baut auf diesen Maßnahmen auf, die damals auch explizit antisemitisch begründet wurden. Inzwischen hat sich die Stoßrichtung des Grenzregimes verändert. In den 1950er Jahren ging es um die Abwehr von Ansprüchen proletarisierter Migranten aus den ehemaligen oder noch bestehenden Kolonien, heute um die Anrufung einer weißen Vorherrschaft auf der Insel.
Unterstützt wurden diese Einwanderungskontrollen Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch auch durch den bürgerlichen Teil des organisierten Judentums. Diesem waren die proletarischen und »ungebildeten« Neuankömmlinge aus Osteuropa suspekt. Funktionäre jüdischer bürgerlicher Organisationen sprachen damals auch auf Kundgebungen rechter, einwanderungsfeindlicher protofaschistischer Organisationen. Als am 4. Oktober 1936 im »Battle of Cable Street« ein faschistischer Aufmarsch im Londoner East End durch einen maßgeblich von proletarisch-jüdischen Strukturen getragenen Widerstand abgewehrt werden konnte, war es vor allem die bürgerliche Zeitschrift Jewish Chronicle, welche die jüdische Beteiligung am antifaschistischen Abwehrkampf kritisierte. Es war ebenfalls der bis heute existierende Jewish Chronicle, über welchen große Teile der Antisemitismusvorwürfe gegen Jeremy Corbyn lanciert wurden.
Rolle der »Community Leaders«
Die Kontrolle und Disziplinierung von Minderheiten durch den britischen Staat läuft in Großbritannien nicht nur durch Medien wie Jewish Chronicle, sondern oft auch über den Transmissionsriemen der »Community Leaders«. Dabei handelt es sich um bürgerliche Einzelpersonen und Organisationen, welche durch den Staat, Parteien und die Medienlandschaft zu »offiziellen« Sprachrohren einer Gemeinschaft – egal ob jüdisch, afrokaribisch oder muslimisch – ernannt werden. Als solche erhalten sie bestimmte Privilegien – solange sie zur Verbreitung des offiziellen staatlichen Narrativs beitragen.
Im Fall der verschiedenen in Großbritannien lebenden Gemeinschaften mit Einwanderungsgeschichte bedeutet dies hauptsächlich einen Verzicht auf die Kritik der bis heute bestehenden kolonialen Strukturen und Kontinuitäten im Vereinigten Königreich sowie die Verpflichtung zur Verbreitung der offiziellen und in Schulen und Universitäten gelehrten Geschichtsauffassung, wonach Großbritannien immer ein europaweit einzigartiger Hort des Liberalismus gewesen sei, welcher schon sehr früh jede Form religiöser oder ethnischer Intoleranz überwunden habe. Diese Darstellung ist ahistorisch und inkorrekt. Sie hat die Funktion, Repressionen gegen renitente Migranten und deren Unterstützer zu legitimieren, denn diese würden Intoleranz und rückständige Ansichten, wie zum Beispiel den Antisemitismus, überhaupt erst ins Land bringen. Indirekt dient dieses staatliche Narrativ auch der Neutralisierung der ganzen Arbeiterbewegung, indem Streiks, Blockaden oder Aufstände als »unbritisch« charakterisiert werden.
Heute instrumentalisieren die rechten Kräfte, egal ob bei Labour, den Tories oder im Umfeld von »Reform UK« organisiert, die jüdische Bevölkerung Großbritanniens für ein sehr spezifisches identitäres Projekt, welches jüdische Menschen als »westlich zivilisiert« definiert, und sie den als »unzivilisiert« gebrandmarkten Menschen des globalen Südens entgegenstellt. Entsprechend wird auch der Staat Israel als fortschrittlicher »westlicher« Staat verstanden, der mit den Menschen im Gazastreifen so umgehen darf (oder sogar muss), wie der britische Staat mit per Schlauchboot nach Großbritannien reisenden Flüchtlingen umzugehen gedenkt. Diese auch durch bürgerlich-jüdische »Community Leader« verbreitete Sichtweise ist nicht zuletzt auch eine Bedrohung für die jüdischen Gemeinschaften in Großbritannien selbst, da sie vom britischen Staat zu Symbolen weißer Vorherrschaft gemacht werden. Dadurch droht die tatsächliche Unterdrückungsgeschichte jüdischer Bevölkerungen in Europa aus dem historischen Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verschwinden.
Die neue linke Partei (geht es nach dem Willen von Zarah Sultana, wird sie wie die deutsche Partei Die Linke einfach nur »The Left« heißen) wird sich sehr schnell mit diesen Narrativen und Herrschaftstechniken konfrontiert sehen. Auch die muslimische Community kennt den Integrationsmechanismus der »Community Leader«. Und auch sie haben wirtschaftlich und politisch eine bürgerlich-konservative Ausrichtung. Linke Kräfte haben in der Vergangenheit immer wieder den Fehler gemacht, das Bündnis mit diesen »Leadern« zu suchen, anstatt die lohnabhängigen Schichten der betreffenden Communitys von diesen abzuspalten.
Herausforderungen
Zuletzt biederte sich die Workers Party of Britain (WPB) um den ehemaligen sozialdemokratischen Unterhausabgeordneten George Galloway bei Kommunalwahlkämpfen mit trans- und queerfeindlichen Haltungen an konservative Schichten innerhalb muslimisch geprägter Nachbarschaften an. Und auch der unabhängige, sich dem neuen linken Parteiprojekt zugehörig fühlende muslimische Unterhausabgeordnete Adnan Hussain benutzte Anfang August transfeindlich besetzte Sprachbilder, um Sympathien unter konservativen Bevölkerungsgruppen zu gewinnen. Dies wurde von Sultana umgehend als reaktionär zurückgewiesen, verdeutlicht aber die Herausforderungen, vor denen die neue, noch nicht gegründete Partei steht. Insbesondere sich als revolutionär verstehende Gruppierungen, die sich derzeit um Anschluss an die geplante Partei bemühen, sind gut beraten, derlei Auseinandersetzungen nicht als unwesentliche Randphänomene abzutun.
Das linke Projekt in der Labour-Partei rund um Jeremy Corbyn tat sich in der Vergangenheit extrem schwer damit, einen Umgang mit rückwärtsgewandten Positionen innerhalb der Mitgliedschaft zu finden. Dies wird bis heute mit der Härte der Angriffe aus dem bürgerlichen Lager und den damit verbundenen Rückzugsgefechten gerechtfertigt. Eine Begründung, die durchaus nachvollziehbar ist. Gleichzeitig gab es aber nie eine Analyse der Herausforderungen, die mit der Entstehung einer Massenpartei oder -bewegung verbunden sind. So wurden die Widersprüche im Bewusstsein verschiedener Schichten der lohnabhängigen Bevölkerung kaum berücksichtigt.
Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Dominanz verschwörungsmythischer Gedanken innerhalb der lohnabhängigen Klasse. Diese war bereits in den Jahren 2015 bis 2020 vorhanden, und hat sich seitdem weiter verschärft. Verschwörungsgedanken speisen sich aus unterschiedlichsten Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Abstiegserfahrungen und können potentiell zu Antisemitismus führen, auch wenn dieser nicht bewusst ausformuliert wird. Ein solcher Protoantisemitismus kann dann entweder von rechts für bürgerliche Interessen instrumentalisiert oder von bürgerlichen Medien für den propagandistischen Kampf gegen die Entstehung einer Klassenpartei der Lohnabhängigen verwendet werden. Eine neue linke Partei kann deshalb nie nur eine Aktivismuspartei sein. Sie muss auch eine politische Bildungsorganisation werden. Dies konnte das alte Corbyn-Projekt nicht leisten, aber die geplante neue Partei muss sich dem Problem stellen. Neben einer selbstbewussten feindlichen Haltung gegenüber Kapital und Staat liegt hier ein Schlüssel dafür, zukünftige bürgerliche Angriffe zurückweisen zu können.
Christian Bunke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 27. Juni 2025 über die Militarisierung in Großbritannien: »Kanonenfutter gesucht«
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Horst Ossinger dpa/lnw05.09.2025
Totschlagvorwurf Antisemitismus
- Fabian Bimmer/REUTERS11.08.2025
Begrifflicher Bärendienst
- Martin Pope/ZUMA Press Wire/imago08.11.2024
Im Zweifel für Israel