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Aus: Ausgabe vom 27.06.2025, Seite 12 / Thema
Aufrüstung und Krieg

Kanonenfutter gesucht

Ein Blick nach Großbritannien zeigt, wie sich der Militarismus auch hierzulande entwickeln könnte
Von Christian Bunke
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Früh übt sich, wer fürs Vaterland sterben will. Kriegswerbung am Rande einer Flugzeugshow im britischen Eastbourne (19.8.2023)

Am 15. Juni fand in Deutschland erstmals der sogenannte Veteranentag statt. Dessen Durchführung wurde im April 2024 vom deutschen Bundestag beschlossen. Es handelt sich hierbei um einen von vielen Versuchen, militaristisches Gedankengut und militaristische Praxis im Rahmen der »Zeitenwende« im deutschen Alltag zu verwurzeln. Auf rund 60, unter anderem vom Reservistenverband organisierten, Veranstaltungen zeigte das Militär im öffentlichen Raum Präsenz. Unter der Überschrift »Der 15. Juni gehört unseren Veteranen« zitiert der Reservistenverband in seiner Bewerbung für diesen Tag Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) wohlwollend mit den Worten: »Es geht um die Anerkennung derjenigen, die in letzter Konsequenz bereit sind, das Äußerste für andere zu geben und die ihr Leib und Leben für unser Land einsetzen«. Im Krieg wird getötet, aber es wird auch verwundet und gestorben. Dies mit Blick auf mögliche kommende »große« Kriege zu normalisieren ist Zweck des Veteranentages.

Eine Gesellschaft militarisiert sich nicht von alleine. Schon gar nicht eine moderne kapitalistische Industriegesellschaft. Die Fähigkeit zur Kriegführung benötigt die ideologische und materielle Mobilisierung großer Bevölkerungsteile in Schulen, Universitäten und Betrieben. In den 1980er Jahren wurde versucht, eine solche Kriegsfähigkeit über sogenannte Zivilschutzübungen, unter anderem in Schulen, herzustellen. Diese »Zivilschutzübungen« sollten in der Bevölkerung Akzeptanz für die Möglichkeit eines Atomkrieges schaffen. Die Friedensbewegung intervenierte damals in die Gewerkschaften hinein, um Derartiges zu be- und verhindern, um einer Militarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Heute drängt die Bundeswehr wieder in die Bildungseinrichtungen hinein, und antimilitaristische Kräfte in den Gewerkschaften haben es vor Ort teilweise schwer, innerhalb ihrer Kollegien antimilitaristischen Argumenten Gehör zu verschaffen. Zu viele Kolleginnen und Kollegen scheinen der Ansicht zu sein, das Militär sei Teil der demokratisch verfassten Gesellschaft und gehöre deshalb auch an die Schulen. Gedeckt wird diese den Militarismus befürwortende Haltung durch die Mehrheiten zahlreicher Bundesvorstände in den deutschen Einzelgewerkschaften.

Tatsächlich ist es das Militär selbst, das alle in der Gesellschaft existierenden demokratischen Aspekte durch seine militaristische Propagandaoffensive bedroht. Dies ist kein Begleitprodukt, sondern Absicht, da Krieg die totale Unterwerfung der Gesellschaft unter die militärische Führung des Staates bedeutet. In formal parlamentarisch-demokratisch verfassten Gesellschaften muss diese propagandistische Arbeit jedoch in verschleierteren Formen als etwa in offen faschistisch organisierten Systemen bewerkstelligt werden. Konkret steht das deutsche Militär vor dem Problem, dass militärische Zwangsdienste seit geraumer Zeit ausgesetzt wurden, und es für deren Wiedereinführung allem Trommelfeuer zum Trotz lange Zeit keine tragfähigen Mehrheiten gab. Das Militär braucht jedoch für die kommenden Kriege Mord- und sterbebereites Personal, das derzeit nur in ungenügender und teils unbrauchbarer Form zur Verfügung steht. Die Tätigkeit beim Militär muss deshalb in den Augen der Gesellschaft attraktiver und normalisiert werden. Der Ausbau militärischer Präsenz an Schulen und Hochschulen sowie öffentlichen Orten über Ereignisse wie den Veteranentag ist Teil dieses Prozesses.

Das britische Beispiel

Veteranentage gibt es neben den USA unter anderem auch in Großbritannien. Beides sind hochgradig militarisierte Gesellschaften, in denen es jahrzehntelange Erfahrungen mit dem Eindringen des Militärs in scheinbar zivilgesellschaftliche Lebensbereiche gibt. Insbesondere das Beispiel Großbritanniens ist für die deutsche Debatte instruktiv. Denn hier lassen sich die spezifischen Interessen des Militärs innerhalb eines Staates und einer Gesellschaft aufzeigen, und wie diese verfolgt und gestärkt werden. Es zeigen sich aber auch dessen Grenzen. Denn der Militarismus ist in Großbritannien zwar derzeit so stark in der Gesellschaft verankert wie lange nicht. Doch die aktive Bereitschaft zum Sterben für das Vaterland hinkt dem abstrakten Militarismus immer noch stark hinterher, sehr zum Missfallen militärischer und politischer Eliten.

Die militaristische Phase, die das Vereinigte Königreich in den vergangenen 20 Jahren durchgemacht hat, kann nicht ohne die massive Opposition verstanden werden, die die britische Beteiligung an den Kriegen in Afghanistan und Irak nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 innerhalb großer Teile der britischen Gesellschaft, aber vor allem unter migrantischen Teilen der Jugend und der Lohnabhängigen auf der Insel hervorgerufen hat. Die Massenbewegung gegen beide Kriege brachte Millionen Menschen auf die Straße und führte dazu, dass sich viele britische Gewerkschaften gegen diese Feldzüge aussprachen. Dies wird in Teilen gerade rückgängig gemacht, etwa indem die derzeitige Führung der britischen Industriegewerkschaft UNITE die Aufrüstungsvorhaben der sozialdemokratischen Regierung unter Keir Starmer explizit begrüßt. In Teilen ist die derzeitige promilitaristische Haltung der UNITE-Gewerkschaft auch ein Ergebnis eines militaristischen Rollbacks, an dem seitens der britischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten in der Politik in den vergangenen Jahren als Reaktion auf die Antikriegsstimmung in der Bevölkerung hart gearbeitet wurde.

Der Kampf für die Remilitarisierung der britischen Gesellschaft hatte und hat die Form eines rechten Kulturkampfes. Seit Mitte des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre beobachten britische Friedensorganisationen wie die Campaign for Nuclear Disarmament (CND) oder die Quäker verstärkte Interventionen führender Militärs im öffentlichen Raum. Diesen sind eigentlich starke verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Das Militär soll kämpfen, Politiker sollen die Politik machen, auf deren Grundlage gekämpft wird. Soweit die Theorie. Doch seit die Kriege in Irak und Afghanistan verstärkt zu Gefallenen und Verwundeten innerhalb der britischen Armee führten, begannen amtierende und ehemalige Generäle eine umfassende Medienkampagne in konservativen Tageszeitungen wie der Daily Mail oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der BBC zu initiieren. Durch gezielte Interventionen in Form von Interviews und Leserbriefen vermittelten sie ein ganz bestimmtes Bild: Die britische Gesellschaft, so die von ihnen verbreitete These, habe den Respekt vor der kämpfenden Truppe verloren. Soldaten würden in der Öffentlichkeit angefeindet. Die Jugend sei weitgehend hedonistisch und lasse die für effektive Kriegführung nötige Disziplin vermissen. Außerdem würden sich insbesondere Migranten muslimischen Glaubens weigern, sich in die christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft Großbritanniens zu assimilieren. Dies gefährde die Wehrfähigkeit der Nation von innen. Diese Medieninterventionen wurden von Politikern sowohl des konservativen als auch des sozialdemokratischen Lagers bereitwillig aufgegriffen. Sie trugen auch zum Aufstieg des Rechtspopulisten Nigel Farage und der Stärkung neofaschistischer Gruppen, die der Armee teilweise nahestehen.

Vom Veteranen- zum Streitkräftetag

Ein wichtiger erster Erfolg dieser militaristischen Kampagne war die Einführung des britischen Veteranentags durch den damaligen sozialdemokratischen Premierminister Gordon Brown im Jahr 2006. Am ersten Veteranentag wurden Medaillenehrungen für Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Irak-Krieg durchgeführt. Beide Kriege wurden somit im öffentlichen Bewusstsein miteinander gleichgesetzt. Dies missfiel und missfällt zahlreichen noch lebenden Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Denn vielen von ihnen ging es bei der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg vor allem um die Botschaft, dass sich ein derartiger Krieg nie mehr wiederholen dürfe. »Kriege sind furchtbar« ist die zentrale Botschaft, die Veteranen des Zweiten Weltkriegs vermitteln, wenn sie denn einmal in ein Mikrofon sprechen dürfen.

Mit der Einführung des Veteranentags jeweils am letzten Sonnabend im Juni begannen britische Militärs eine sehr andere Botschaft zu verbreiten. Von nun an hieß es: Kriege sind unvermeidlich und deshalb vorzubereiten. Veteranen sind als Helden des Vaterlandes zu verehren. Mit dem Veteranentag sollte ein angeblich »unzerstörbarer Bund zwischen Militär, Staat und Bevölkerung hergestellt werden. Während britische Kommunen im Rahmen staatlicher Austeritätspolitik Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen schlossen, unterschrieben sie Absichtserklärungen, in denen sie diesen »Bund« noch einmal bekräftigten. Materiell änderte dies für Kriegsversehrte kaum etwas. Wie auch der Rest der Bevölkerung sehen sie sich täglich mit den kaputtgesparten Sozialsystemen konfrontiert. Aber immerhin können sie sich andauernder patriotischer Lobhudelei durch Politik und Medien sicher sein.

Dies ist auch die Intention des deutschen Veteranentages. Indem ausdrücklich in den Vordergrund gestellt wird, dass Kriege auch lebensverändernde Beeinträchtigungen bedeuten, will die Bundeswehr die Zivilbevölkerung auf die Realitäten von Kriegen einstimmen und somit militarisieren. In Großbritannien stießen die Militärs damit jedoch schnell auf Probleme. Zwar funktionierte nicht nur der Veteranentag aus deren Sicht ganz wunderbar. Mittels öffentlicher Waffenschauen konnten schon Kinder im jüngsten Alter für Kriegstechniken begeistert werden. Die Wertschätzung für die Soldatinnen und Soldaten seitens der britischen Bevölkerung erreichte durch das offensivere Auftreten der britischen Streitkräfte im zivilen Raum schnell ungeahnte Höhen. Doch äußerte sich diese Wertschätzung vor allem in Sympathien für die von kämpfenden Soldaten und deren Angehörigen erbrachten Opfer, woraus ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung den Schluss zog, am sinnvollsten sei es deshalb, kriegerische Auslandseinsätze weitestgehend zu vermeiden, um eben derartige Opfer zu minimieren. Die Bevölkerung entwickelte patriotische Gefühle für die Streitkräfte, jedoch kaum für deren in fernen Ländern geführten imperialen Kriege.

Spätestens mit dem NATO-Gipfel in Wales im Jahr 2014 war jedoch klar, dass »große« Kriege zwischen rivalisierenden Groß- und Mittelmächten wieder auf der Tagesordnung stehen. Russland und China wurden auf diesem Gipfel als Gegenspieler westlicher Mächte definiert und markiert. In Folge wurde erstmals das Zweiprozentziel propagiert, das NATO-Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung aufzuwenden. Inzwischen ist die NATO bekanntlich bei einem Fünfprozentziel angekommen.

Kriegsgedenken

Seit 2009 ist aus dem britischen Veteranentag der »Armed Forces Day« geworden, was als »Streitkräftetag« übersetzt werden kann. Aus der Sicht britischer Militärs hat die Umbenennung den Vorteil, dass nun der kämpfenden Truppe gehuldigt wird, und nicht mehr lästigen, den Weltfrieden befürwortenden Weltkriegsveteranen von vorgestern. Ziel des »Armed Forces Day« ist es, zum Beispiel durch Militärparaden in Stadtzentren, den Stolz auf aktiv kriegführende heimische Streitkräfte zu erhöhen. Kombiniert wurde dies mit einer stetigen Militarisierung des traditionell am 11. November begangenen Kriegstotengedenktages. In den Monaten vor dem 11. November verkauft die »Royal British Legion« aus Plastik angefertigte Mohnblumen, »Poppies«, die man am Revers tragen kann. Ursprünglich ging es dabei darum, Spendengelder für Kriegsversehrte und Veteranen der beiden Weltkriege zu sammeln. Inzwischen geht es um weitaus mehr.

Die britischen Streitkräfte und ihre Vorfeldorganisationen haben in den vergangenen Jahren eine immer aktivere Rolle rund um das Kriegstotengedenken eingenommen. Aktive Soldaten verkaufen »Poppies« in den Einkaufszentren großer und kleiner Städte mit dem Slogan »Unterstützt unsere Truppen«. Auch hier hat sich also die Gewichtung verändert. Weg von einer Nachdenklichkeit über die tragischen und vermeidbaren menschlichen Kosten von Kriegen, hin zu einer ideologischen Unterstützung für gegenwärtige und kommende Kriege. Begleitet wird dies mit einem propagandistischen Trommelfeuer über alle Medienkanäle, das all jene zu schlechten Menschen erklärt, die sich weigern, eine »Poppy« zu tragen. Ihnen wird unterstellt, es an patriotischer Unterstützung für die Truppen mangeln zu lassen. Was mit Personen geschieht, die derart »unpatriotisch« agieren, musste der linke ehemalige Parteichef der Labour-Partei Jeremy Corbyn erfahren, als er in Wahlkämpfen die Meinung vertrat, er werde sicher keinen atomaren Erstschlag auslösen. Als Reaktion nutzten in einer britischen Militärbasis in Afghanistan stationierte Soldaten das Gesicht Corbyns als Zielscheibe für Schießübungen, während Generäle in Medieninterviews warnten, die Streitkräfte würden »direkte Aktionen« unternehmen und der Regierung den Gehorsam verweigern, sollte Corbyn Premierminister werden.

Werben um die Jugend

Doch trotz allen Getrommels sehen sich die britischen Streitkräfte immer noch mit einer sogenannten Rekrutierungskrise konfrontiert. Und das, obwohl sie beim Anwerben neuen Menschenmaterials nicht zimperlich vorgehen und zu immer rabiateren Methoden greifen. Das müssen sie auch, denn in Großbritannien gibt es seit 1963 keine Wehrpflicht mehr. Im öffentlichen Bewusstsein wird die Wehrpflicht mit den beiden Weltkriegen verknüpft, an denen das Vereinigte Königreich beteiligt war. Dies macht eine Neueinführung der Wehrpflicht aus Sicht der Militärs auch so heikel, da diese sehr wahrscheinlich von Widerstand und Unmut aus der Bevölkerung begleitet würde. Das mühselig über »Veteranen-« und »Streitkräftetage« hergestellte »Band« zwischen Militär und Bevölkerung könnte dann reißen.

Deshalb versucht das Militär, Menschen schon in einem sehr jungen Alter an sich zu binden. 16jährige dürfen in Großbritannien zwar nicht wählen. Sie sind aber sehr wohl Zielscheibe von Rekrutierern der Streitkräfte, die sehr bewusst und regelmäßig Schulen besuchen, die in sozialen Brennpunkten liegen, in denen Jugendliche keine Aufstiegschancen haben. Vor allem die Armee braucht Kanonenfutter für die Infanterie, das mit der Behauptung angelockt wird, die Armee biete eine sinnvolle Berufung, Teamarbeit, sportliche Herausforderung und Zusammengehörigkeitsgefühl, das in der restlichen Gesellschaft nicht zu finden sei. Verstärkt wird dies über die »Kadetten«. Dabei handelt es sich um an Schulen angesiedelte Vorfeldorganisationen der Streitkräfte, die Schülern eine vormilitärische Ausbildung verabreichen, in der Hoffnung, diese in Folge für den Dienst an der Waffe gewinnen zu können. Hinzu kommen neuerdings durch das Verteidigungsministerium finanzierte Programme, die Schülern »militärisches Ethos« vermitteln sollen, angeblich mit dem Ziel der Charakterformung zum Zweck besserer Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt kaum eine britische Schule, die nicht mit dem Militär kooperiert.

In den vergangenen Jahrzehnten bemühte sich das Militär dabei um eine betont egalitäre Erzählung: Die zivile Gesellschaft gebe jungen Menschen keine Chance – aber in der Armee seien alle willkommen, egal welcher Hautfarbe und welchen Geschlechts. Diese Erzählung hält der Wirklichkeit jedoch nicht stand. Das beginnt schon damit, dass die Armee gesellschaftliche Klassenspaltungen und Verhältnisse innerhalb ihrer eigenen Strukturen reproduziert. Denn während die an Schüler gerichteten Angebote vor allem dazu dienen sollen, die Mannschaftsränge der Armee aufzufüllen, gibt es an den Universitäten seit Anfang des 20. Jahrhunderts Vorfeldorganisationen, die ausschließlich der Herausbildung der nächsten Generation der Offizierskaste dienen. Es handelt sich dabei um die University Officers’ Training Corps. Fast jede britische Universität ist über ein solches Corps mit dem Militär verbandelt. Auf regionaler Ebene werden die Corps zu Regimentern zusammengefasst. Innerhalb dieser Corps können Studierende die ersten Stufen einer Offizierslaufbahn absolvieren und nach Ende des Studiums diesen Weg bei der Offiziersakademie Sandhurst fortsetzen, wenn sie dies wünschen. Arbeiterkinder werden einfache Soldaten für die Drecksarbeit im Schützengraben. Die Kinder bildungs- oder großbürgerlicher Schichten sind auch im Militär direkt zu Höherem berufen. Somit ist eben auch das Militär kein sozialer Gleichmacher, sondern Abbild der real existierenden Klassengesellschaft.

Doch die Botschaft verfängt. Statistiken, die vom britischen Verteidigungsministerium herausgegeben werden, zeigen, dass die »Rekrutierungskrise« weniger eine der Rekrutierung an sich ist. Junge, darunter sehr viele minderjährige, Menschen treten der Armee bei. Aber etwa ein Viertel von ihnen bricht die Ausbildung vorzeitig ab. Antimilitaristische Organisationen wie »Forces Watch« können auch gut belegen, warum dem so ist. Denn der militärische Alltag ist sehr anders, als in der Propaganda dargestellt. Die Hierarchien sind straff, es herrschen Drill und der Zwang zu unbedingtem Gehorsam. Dies geht mit rassistischen Beleidigungen und körperlicher Gewalt durch »Kameraden« und Vorgesetzte einher, die gerade für Frauen oder nicht der heterosexuellen Norm entsprechende Menschen, zum Beispiel Transgenderpersonen, auch sexualisierte Gewalt bedeuten. Tausende solcher Fälle sind bekannt. Jedes Jahr gibt es Selbstmorde unter Rekruten. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Gerade für Minderjährige, die sich entscheiden, das Militär zu verlassen, kann dies gravierende Auswirkungen haben. Vielen von ihnen bleiben zivile Ausbildungspfade verschlossen, weil sie aufgrund ihrer Zeit beim Militär Schule oder College verlassen haben. Dorthin zurückzukehren, fällt vielen von ihnen schwer.

Seit Beginn der »Zeitenwende« hat die Rekrutierungspropaganda des britischen Militärs begonnen, sich zu verändern. Zwar werden Jugendliche immer noch mit der »charakterformenden« und somit angeblich charakterfördernden Wirkung einer vormilitärischen oder militärischen Ausbildung angesprochen. Allerdings wird nun offener thematisiert, was für eine Sorte Charakter da gefordert ist: nämlich einer, der unter Feuer seinen »Mann« steht, und bereit ist zu töten. Gleichzeitig scheint sich der Ton innerhalb des Militärs selbst zu ändern. Offener Sexismus und Rassismus nehmen zu und werden laut eines Berichts der Organisation »Forces Watch« selbst kaum noch oberflächlich bekämpft.

Rollback

Dies fällt mit dem erklärten Bemühen führender Militärs zusammen, die koloniale Vergangenheit Großbritanniens und die Rolle, welche die Streitkräfte darin gespielt haben, positiver herauszustreichen. Bekanntlich plante der ehemalige Labour-Parteichef Jeremy Corbyn die Einführung kritischer Unterrichtsinhalte, um der jungen Generation die, gelinde gesagt, problematische imperiale Geschichte Großbritanniens näherzubringen. Auch dies war eine Ursache des Hasses, der ihm aus den Streitkräften entgegenschlug. Das Militär hofft offensichtlich, über eine veränderte Rekrutierungsstrategie an Menschenmaterial zu gelangen, das den Anforderungen eher entspricht: Rekruten, die bereit sind zu töten; zu zerstören, und die kein Problem damit haben, sich zu Killern abrichten zu lassen. Alles, was irgendwie »woke« ist, stört da nur.

Und hier kommen Militär und eine Regierungsagenda, die jedes soziale Problem im Land auf mit Schlauchbooten über den Ärmelkanal gelangende Flüchtlinge schieben möchte, gut zusammen. Immer größeren Bevölkerungsteilen wird vermittelt, dass sie zur Nation und somit zum Staat nicht dazugehören, während Premierminister Starmer versucht, Teile der Arbeiterklasse durch einen der Aufrüstung dienenden Kriegskeynesianismus an eben diesen Staat zu binden. Das ist noch lange kein Faschismus. Aber eine ernste Bedrohung für alle, die schon jetzt nicht dazugehören. Und es bereitet den Boden für eine Mentalität innerhalb der kämpfenden Truppe, aus welcher mögliche Freikorps der Zukunft erwachsen könnten. In Deutschland steckt der neue Militarismus vergleichsweise noch in den Kinderschuhen, hat er doch aufgrund historischer Brüche, die Großbritannien in der Form nie hatte, viel aufzuholen. Doch Großbritannien zeigt, wohin die Reise geht, wenn sie nicht frühzeitig antimilitaristisch sabotiert und bekämpft wird.

Weiterführende Literatur:

ForcesWatch: The Politics of the Military Recruitment Crisis. April 2025; https://www.forceswatch.net/comment/the-politics-of-the-military-recruitment-crisis/

Paul Dixon: Warrior Nation – War, Militarisation and British Democracy. ForcesWatch 2018;

https://www.forceswatch.net/resources/warrior-nation-war-militarisation-and-british-democracy/

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