Totschlagvorwurf Antisemitismus
Von Jakob Reimann
Es wirft ein grelles Schlaglicht auf den kaputten Diskurs zu Palästina und Israel in diesem Land: Ende Januar wurde die damals 17jährige Medienaktivistin Judith Scheytt in den Räumlichkeiten des Grimme-Instituts mit einer »Besonderen Ehrung« im Rahmen des Donnepp Media Award ausgezeichnet, der seit 1991 vom »Verein der Freunde des Adolf-Grimme-Preises« vergeben wird. »Judith Scheytt erschafft mit ihrer Medienkritik auf Instagram eine neue und wahrhaft zeitgemäße Form der Medienpublizistik«, hieß es in der Begründung, die vom Grimme-Institut verbreitet wurde. Doch weil Scheytt auch die weltweit von Juristen und internationalen Gerichten gegen Israel erhobenen Vorwürfe wie Völkermord, Apartheid oder Besatzung vorbringt, gab es Feuer von seiten der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die nach Aussage des Grimme-Vereinsvorsitzenden Jörg Schieb mit der »Staatskanzlei« und einer »Medienkampagne« gedroht hatte. Aus Angst vor schlechter Presse erkannten die Verantwortlichen Scheytt den Preis wieder ab – der Vorwurf: Antisemitismus.
Glaubwürdige Beweise für die schwerwiegenden Anschuldigungen konnte Schieb freilich nicht liefern. Die 39seitige »wissenschaftliche Analyse«, die sie begründen soll, ist ein schlechter Witz. Scheytt veröffentlichte das Papier, dass Schieb ihr zur Begründung geschickt hatte, am Montag. Es wurde offensichtlich in weiten Teilen von einer künstlichen Intelligenz (KI) erstellt. Das weist der Vorsitzende Schieb zurück – er bezeichnet sich selbst als »KI-Enthusiast« bietet Onlinekurse mit dem Versprechen an, »in 120 Minuten vom KI-Laien zum absoluten KI-Insider« zu werden. Eine KI-basierte Auswertung des Texts konnte indes eine Vielzahl »KI-typischer Fingerabdrücke« identifizieren. Es wurden angebliche UN-Statistiken, Forschungsergebnisse der Linguistin Monika Schwarz‑Friesel von der TU Berlin und weitere Studien und Statistiken präsentiert, die aller Wahrscheinlichkeit nach frei erfunden sind.
Die wenigen genannten Quellen besprechen oft ganz andere Themen. Neben mehreren ähnlichen Beispielen wurde etwa für Behauptungen, die Israels Bombardierung ziviler Infrastruktur in Gaza relativieren sollen, eine Wikipedia-Seite zu Antisemitismus zitiert, in der diese Themen schlicht nicht behandelt werden. Schieb nennt in seinem Papier das von Israel zerstörte Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt »Schieferkrankenhaus«. Doch angenommen, der Text stammt tatsächlich aus Schiebs Feder, wäre das die weitaus größere Blamage – er würde als unwissenschaftlicher, inkompetenter Scharlatan dastehen.
Das Dokument ist gespickt mit hochtrabenden, pseudowissenschaftlichen Formulierungen wie »selektive Kontextualisierung«, »terminologische Verharmlosung« oder »mediale De-realisierung«. Am Ende musste Schieb wohl mit Bedauern feststellen, dass Scheytts Videos »auf den ersten Blick keine explizit judenfeindlichen Äußerungen enthalten«, wovon er sich freilich nicht abhalten lässt, ihr Antisemitismus vorzuwerfen. Die Entscheidung, Scheytt den Preis abzuerkennen, schlägt bereits mit voller Wucht zurück. So haben die Medienschaffenden Esra und Patrick Phul sowie die Journalistin Annika Schneider aus der Redaktion des medienkritischen Onlinemagazins Übermedien bereits angekündigt, aus Protest ihren Preis zurückzugeben. Weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen das Grimme-Institut sind in Planung.
»Es ist ein weiterer Fall in einer unglaublich langen, gut dokumentierten Reihe an Fällen, in denen pro-israelische Lobbygruppen Diskurs verunmöglichen und Druck gegen unliebsame Stimmen machen, die sich gegen den israelischen Völkermord und Besatzung aussprechen«, erklärte Scheytt am Donnerstag gegenüber junge Welt. Sie weist den Antisemitismusvorwurf kategorisch zurück und kritisiert, wie leichtfertig das Label Antisemitismus verteilt werde. Daran sehe man, »wie dieser Vorwurf missbraucht wird, um allein das Benennen israelischer Verbrechen zu kriminalisieren«. Hätte er den Preis nicht aberkannt, hätte dies das Potential, »eine Lawine loszutreten, die Grimme und dem Verein großen Schaden anrichten könne«, habe Schieb bei einem Anruf gegenüber Scheytt lamentiert. Mit seinem Einknicken hat er die Lawine wohl selbst losgetreten.
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