Minimale Erwartungen
Von Reinhard Lauterbach
Sechs Wochen nach seinem Amtsantritt ist der polnische Staatspräsident Karol Nawrocki am Dienstag in Berlin zu seinem Antrittsbesuch empfangen worden. Der halbtägige Aufenthalt Nawrockis begann um neun Uhr mit einem Empfang des Gastes durch eine Ehrenformation der Bundeswehr im Hof des Berliner Schlosses Bellevue, des Amtssitzes von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Nach etwa zweistündigen Gesprächen im Präsidialamt wurde Nawrocki am späteren Vormittag auch von Bundeskanzler Friedrich Merz empfangen. Anschließend reiste er weiter nach Paris, um den französischen Staatschef Emmanuel Macron zu treffen.
Charakteristisch für die kühle Atmosphäre zwischen Berlin und Warschau ist der Umstand, dass im Anschluss an Nawrockis Aufenthalt weder mit Steinmeier noch mit Merz eine gemeinsame Pressekonferenz vorgesehen war. Die Organisatoren fürchteten offenkundig, dass ein politisch nicht erwünschtes Bild von Konflikten zwischen der BRD und Polen transportiert werden könnte, obwohl diese klar auf dem Tisch liegen.
Der größte Dissens besteht in der Forderung Polens nach Reparationen für die Ausplünderung und Zerstörung des Landes durch Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Nawrocki hatte sich dieses Thema am 1. September in einer Ansprache zum Gedenken an den Beginn dieses Krieges auf der Westerplatte bei Gdańsk ausdrücklich zu eigen gemacht und erklärt, er teile nicht den Standpunkt der Bundesregierung, dass die Reparationsfrage rechtlich abgeschlossen sei. Im übrigen: Selbst wenn sie rechtlich abgeschlossen sein sollte, bleibe sie moralisch offen. Und weiter: Selbst wenn Deutschland Reparationen an Polen zahlen sollte, würde dies nicht bewirken, dass in Polen das historische Vergessen ausbreche. Entschädigungen seien nötig, um die deutsch-polnischen Beziehungen zu echter Partnerschaft zu führen und in Zukunft den Weg zu wirklicher Versöhnung und wirklichem Frieden zu bahnen. Man kann es auch so übersetzen: Ihr könnt uns zahlen, was ihr wollt, und sogar, was wir wollen – wir werden trotzdem keine Ruhe geben.
In Berlin wurde deshalb vor dem Besuch Nawrockis auch nur gestreut, man werde beobachten, »in welchem Ton« Nawrocki seine Reparationsforderungen vorbringen werde. Dass die BRD Polen etwas anbieten muss, scheint inzwischen in der deutschen Politik Konsens zu sein. Schon die Scholz-Regierung war mit dem Angebot einer Einmalzahlung von 200 Millionen Euro zugunsten der inzwischen relativ wenigen Überlebenden der deutschen Besatzung nach Warschau gereist. Dies war der polnischen Seite zuwenig. Auch mit einer Einmalzahlung wollte sich Warschau nicht zufrieden geben. Dies war bereits unter der Tusk-Regierung so, es ist also nicht mit der Parteifarbe der in Warschau Regierenden zu erklären. Und um ein in der Endphase der PiS-Regierung aufgekommenes Projekt, auf deutsche Kosten das 1944 zerstörte Sächsische Palais (Pałac Saski) im Zentrum von Warschau wieder aufzubauen, von dem heute nur eine kleine Arkade übrig ist, unter der sich das polnische Grab des unbekannten Soldaten befindet, ist es inzwischen wieder still geworden. Denn das Gebäude des Sächsischen Palais, in dem sich vor 1939 der polnische Generalstab und verschiedene Ministerien befanden, braucht im heutigen Warschau eigentlich niemand.
Inzwischen ventilieren Koalitionspolitiker aus der zweiten Reihe, etwa der Polen-Beauftragte Knut Abraham (CDU), deutsche Militärausgaben zur »Stärkung der Sicherheit Polens« in noch auszuhandelnder Höhe. Polnische Vertreter kontern bisher eher kühl: Das sei keine Entschädigung, weil die »Stärkung der NATO-Ostflanke« auch im Interesse der BRD liege. Es sei vielmehr typisch für Deutschland, dass es nichts ohne die Erwartung von Vorteilen für sich selbst tue. Gleichwohl notieren die führenden polnischen Medien mit Genugtuung, dass sich Berlin in der Reparationsfrage zumindest symbolisch bewege. Das könne der Auftakt zu mehr sein. Krzysztof Bosak, Kovorsitzender der nationalistischen »Konföderation«, warnte allerdings vor raschen Erwartungen: Damit Deutschland zahle, müsse es entweder international unter Druck gesetzt werden, wonach es gerade unter Donald Trump nicht aussehe, oder es müsse aus anderen Gründen eine solche Schwächung der BRD eingetreten sein, dass sie etwas »von Polen brauche«. Dann könne Warschau Gegenforderungen stellen. Polen hat 2022 eine Gesamtforderung von umgerechnet 1,5 Billionen Euro präsentiert. Offenkundig als Aufschlag vor Verhandlungen. Dass irgend etwas, was dieser Summe tatsächlich nahekommt, fließen könnte, glaubt auch in Warschau niemand ernsthaft.
Hintergrund: Stiefmütterlich behandelt
Dass es dem deutschen Staat gelungen ist, die leidige Frage von Reparationen für die Verwüstung Europas durch Krieg und Besatzung während des Zweiten Weltkriegs »juristisch abzuschließen«, ohne solche Entschädigungen geleistet zu haben, ist eines der schmutzigen Geschäfte, die vor allem die Westalliierten in den ersten Nachkriegsjahren mit der postfaschistischen BRD gemacht haben. Vor allem Großbritannien und die USA waren sich der fatalen Folgen der immensen Reparationsschuld für die innere Stabilität der Weimarer Republik bewusst, die diese mit dem Versailler Friedensvertrag von 1919 eingegangen war – vor allem des Aufstiegs des Faschismus zu einer Massenbewegung. Das sollte sich nicht wiederholen.
Und so gelang es der BRD, im Londoner Schuldenabkommen von 1952 die Reparationsfrage auf die Zeit nach dem Abschluss eines Friedensvertrages zu vertagen, also praktisch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Als dieser Tag dann 1990 kam, war es wieder die BRD, die unter Federführung des gewieften Juristen Hans-Dietrich Genscher dafür sorgte, dass die »abschließende Regelung« im Zwei-plus-vier-Vertrag eben kein Friedensvertrag werden sollte, sondern »anstelle eines Friedensvertrages« geschlossen wurde.
Der Punkt dabei ist: Polen kann sich dafür, dass es in all diesen Diskussionen stiefmütterlich behandelt wurde, bei seinen Kriegsverbündeten bedanken. Die verfügten im Potsdamer Abkommen, dass Polen aus der Reparationsmasse der Sowjetunion mitentschädigt werden sollte. Außerdem wurde die Westverschiebung Polens und der damit verbundene Verlust der deutschen Ostgebiete als eine De-facto-Entschädigung behandelt, obwohl sie eigentlich dem so-wjetischen Wunsch entsprungen war, die 1939 angeschlossenen früher polnischen Gebiete zu behalten. Die polnische Politik hatte bis 1944 immer vorgezogen, Lwiw und Vilnius zurückzubekommen, statt Breslau (Wrocław) und Stettin (Szczecin) zu erhalten. Es blieb der gegenüber Moskau loyalen Regierung von Volkspolen vorbehalten, die neue Realität nolens volens zu akzeptieren.
Damit blieb die Reparationsfrage abhängig von den Kalkulationen der »Großen drei«. Die USA brauchten keine Entschädigungen, sondern einen möglichst rasch im Kalten Krieg einsetzbaren Frontstaat. Großbritannien und Frankreich hielten sich in geringerem Umfang an deutschen Bodenschätzen schadlos, Frankreich zum Beispiel durch die wirtschaftliche Abtrennung des Saargebiets von der BRD bis 1956. Und die Sowjetunion entnahm zwar hohe Beträge an Sachleistungen aus ihrer Besatzungszone, bekam aber wegen des Prinzips, dass jede Siegermacht ihre Ansprüche aus ihrem Besatzungsgebiet befriedigen solle, nichts aus dem wirtschaftlich potenteren Westen Deutschlands. (rl)
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