Zumutungsgerechtigkeit wagen
Von Ralf Wurzbacher
Einen Plan hat sie nicht, die Regierung, aber immerhin ein Schlagwort. »Agenda 2030« könnte das Abrissprogramm heißen, welches dem deutschen Sozialstaat nach dem »Herbst der Reformen« blüht. So will es CDU-Generalsekretär Carten Linnemann, wie weiland Gerhard Schröder (SPD) mit seinen Hartz-Gesetzen. Das müsse die Koalition jetzt auch machen, sagte er gegenüber Bild am Sonntag – »so einfach ist das«. Genauso problemlos: Wer künftig wiederholt Arbeitsangebote ablehne, der »darf gar kein Bürgergeld mehr bekommen«, meint der 48jährige. Noch sträubt sich Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) in diesem Punkt, ist aber gerne bereit, »Mitwirkungspflichten und Sanktionen anzuschärfen«, wie sie am Sonntag abend in der ARD erklärte. »Zumutungen« hält sie auch an anderer Stelle für denkbar. Dabei müsse es allerdings gerecht zugehen.
Widerspruch kam am Montag vom Paritätischen Gesamtverband. »Wir brauchen keine ›Agenda 2030‹, sondern eine Politik, die 2025 lösungsorientiert und sozial verantwortlich handelt«, gaben die Zeitungen der Funke-Mediengruppe Hauptgeschäftsführer Joachim Rock wieder. »Wer jetzt einseitig auf Kürzungen setzt, verschärft Unsicherheit und öffnet Extremisten und Populisten Tür und Tor.« Nach neueren Erhebungen liegt die AfD in der Wählergunst mit bundesweit 25 Prozent nahezu gleichauf mit der Union. Bei einer Insa-Befragung im Auftrag von Bild äußerten knapp zwei Drittel ihre Unzufriedenheit mit der Bundesregierung. Seit Juni hat der Anteil derjenigen, die ihr nicht mehr vertrauen, um fast 20 Prozentpunkte zugelegt.
Der Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, Jens Spahn (CDU), will dem mit noch mehr Drangsal gegen Bedürftige beikommen. Man könne »beim Bürgergeld sogar mehr als zehn Prozent sparen«, befand er gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS). Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte die Latte bei »mindestens fünf Prozent« aufgelegt. Ein Kahlschläger will der 45jährige trotzdem nicht sein. »Es geht doch nicht darum, dass es schmerzhaft wird, es geht darum, dass es wirkt, dass es Wachstum bringt, dass es wieder fairer zugeht im Land«, bemerkte er am Sonntag im ZDF. Sich selbst will Spahn nicht sparen. Er hatte als Gesundheitsminister per Maskenaffäre etliche Milliarden Euro an Steuergeld verpulvert und Parteifreunden zu lukrativen Deals mit Schrottware aus Fernost verholfen, die in Massen vernichtet werden musste.
Für Montag abend war ein Spitzentreffen von CDU, CSU und SPD mit der Maßgabe anberaumt, den gemeinsamen Erneuerungswillen durch Einigung auf mehrere Projekte in den Bereichen Wirtschaft und Soziales zu demonstrieren. Im Vorfeld hatte Finanzminister und SPD-Kochef Lars Klingbeil in einem Zeit-Interview Schröders »Agenda 2010« gewürdigt, die die Sozialdemokratie nachhaltig auf den Kurs einer Splitterpartei abdriften ließ. Für Klingbeil läuft das unter »mutige Reformen«; die brauche es auch heute, »damit unser Sozialstaat stark, aber auch bezahlbar bleibt und besser funktioniert«. Wichtig findet indes auch er, dass es »am Ende gerecht zugeht und alle ihren Teil zum Reformpaket beitragen«.
Auf Millionäre und Milliardäre war das nicht gemünzt, Klingbeils Sommerlochvorstoß für eine Vermögensteuer bleibt für und mit der Union ein Tabu. Gegenüber der Rheinischen Post vom Montag sprach Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) von einer »verkürzten Debatte«. Es gehe hier nicht nur um reiche Privatpersonen, sondern »vor allen Dingen um mittelständische Unternehmen«. Der Juso-Bundesvorsitzende Philipp Türmer nannte dies gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ein »Märchen«. Von seiner Partei erwartet er, »mehr eigenes Profil zu zeigen« und »die vielen steuerlichen Privilegien der sehr Reichen in Frage zu stellen«. Rock vom Paritätischen plädierte für spürbare soziale Fortschritte: »Beschäftigte müssen entlastet, Armut im Alter und in Familien wirksam bekämpft und die Aufnahme von Arbeit besser gefördert werden.« Dazu gehöre auch, den Sozialstaat »finanziell breiter und gerechter« aufzustellen, bekräftigte der Verbandschef.
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