Blindflug
Von Arnold Schölzel
Putschartig trat die noch nicht existierende Koalition bereits im Februar mit ihrem Programm an. »Schuldenbremse«? Geschwätz von gestern. Rezession? Wachstum kommt durch Rüstung. Kaputte Infrastruktur? Bald bröckelt keine Brücke mehr. Weil Russland in spätestens drei Jahren angreift, ist jede Billion Euro fürs Militär auf Pump nötig.
Knapp sieben Monate später ist das Merz-Kabinett gleichbedeutend mit Zähigkeit und Gezerre. Die wirtschaftlichen Daten zeigen nach unten, die Industrie entlässt Beschäftigte massenweise, die Verbraucher zeigen überraschend »Konsumzurückhaltung«, weil sie angeblich zuviel auf die hohe Kante legen, die Kommunen wurden wie üblich im Bundeshaushalt »vergessen«, die Funktionsunfähigkeit des Staates vor Ort – Ausnahmen sind das Verprügeln von palästinasolidarischen Demonstranten oder von Rüstungsgegnern und die geplante Geheimdienstschnüffelei in nichtrechten Organisationen – erhält einen weiteren Schub. Am kommenden Sonntag wird offenbar die AfD bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen die Ernte einfahren.
Das Erstarken dieser Partei ist das greifbare politische Ergebnis dieser Koalition. Die AfD kann sich zurücklehnen: Der Bundesinnenminister verpulvert unter ihrem Diktat Dutzende Millionen Euro, um eine Handvoll Asylsuchende zu fangen. Friedrich Merz nennt das »richtig gut gelungen«. Das Interview mit ihm für CDU-TV, aus dem das stammt, enthielt noch weitere lichtvolle Bemerkungen gleichen Kalibers.
Die Unruhe in der eigenen Partei, vor allem aber beim deutschen Kapital, wird solch Blindflug steigern. Zumal Merz bei der Lageanalyse zeigt, dass er die Realität bruchstückweise wahrnimmt: Ihn beschäftige und beschwere erstens, »dass wir zur Zeit als Europäer auf der Welt die Rolle nicht spielen, die wir eigentlich spielen wollen«. Übersetzt: »Wir« sind abgehängt. Merz hat, auch das steht nach sieben Monaten fest, nicht das Format, den Grund für die internationale Unmaßgeblichkeit der Bundesrepublik und Westeuropas im Kriegskurs gegen Russland zu finden. Ihm bleibt da nur die Klage, dass Russland »neue« Partnerschaften mit China, Indien und Brasilien eingehe. Wo war der Mann in den vergangenen 15 oder 25 Jahren? Sein zweites Hauptproblem sei die »Schwäche der deutschen Volkswirtschaft«, deren Produktivität seit zehn Jahren nicht steige. Das wird durch die Milliarden Euro für Rheinmetall, Hensold, Diehl und Co. nun demnächst anders.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sah die Koalition in Bild am Sonntag »mit dem Rücken zur Wand stehen«. Kettenrasseln ist sein Geschäft, richtig ist aber: Wer mit Vollgas in eine Sackgasse fährt, sollte sich auf die Begegnung mit einem harten Hindernis einstellen. Wer Rüstung will, zerstört zunächst den eigenen Staat. Und versucht es in der Regel dann bei anderen mit Waffen. Die Antwort lässt nie auf sich warten.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (8. September 2025 um 11:28 Uhr)Politiker sind nicht an ihren großen Worten, sondern einzig an ihren Taten zu messen. Gerade Merz zeigt exemplarisch, wie viel Schwadronieren nötig ist, um von nicht geleisteter Arbeit abzulenken. Die neue Regierung hat sich keinen Millimeter bewegt. Gewiss, sie hat schlechte Ausgangsbedingungen geerbt – doch dass sie innenpolitisch im Kreis rudert und außenpolitisch blindlings in die falsche Richtung steuert, ist allein ihr Verschulden. Der Untertitel des Artikels geht völlig ins Leere: Eine »Bilanz« kann nur ziehen, wer überhaupt etwas geleistet hat. Merz dagegen bilanziert das Nichts. Ein passender Titel wäre daher: Blindflug – ohne Landung in Sicht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz Schoierer (8. September 2025 um 10:38 Uhr)Arnold Schölzel zählt zunächst die Schandtaten der Regierung auf. Vom Verprügeln von palästinasolidarischen Demonstranten oder von Rüstungsgegnern bis zur geplanten Geheimdienstschnüffelei in nichtrechten Organisationen, um dann zu resümieren: »Am kommenden Sonntag wird offenbar die AfD bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen die Ernte einfahren.« Wie das? Ist etwa die AfD die Partei, die gegen diese Anschläge ankämpft, oder sind die Wähler zu blöd, um den Schwindel der Blauen (mir fiele eine andere Farbe ein) zu erkennen? Der Demagogie der AfD wird mit solchen Einschätzungen jedenfalls nichts entgegengesetzt. Eher wird die Legende von der »Protestpartei« noch gestärkt. Auch fragwürdig: »Merz hat, auch das steht nach sieben Monaten fest, nicht das Format, den Grund für die internationale Unmaßgeblichkeit der Bundesrepublik und Westeuropas im Kriegskurs gegen Russland zu finden.« Abgesehen davon, ob diese Einschätzung überhaupt zutrifft: Brauchen wir wirklich einen Kanzler, der das Format (!) hat, die Bundesrepublik aus der »internationalen Unmaßgeblichkeit« im Kriegskurs (!) gegen Russland herauszuführen? Deutschlands dritter Anlauf zur Weltmacht wird mit solchen Sätzen nicht entlarvt.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (8. September 2025 um 06:05 Uhr)»Kaputte Infrastruktur? Bald bröckelt keine Brücke mehr. Weil Russland in spätestens drei Jahren angreift«. Bedauerlicherweise ist eine Brücke in beide Richtungen befahrbar. Wenn also die Brücken in der BRD und in Polen dann dank fünf Prozent Aufrüstungsziel mit Infrastrukturkomponente tipptopp in Bestzustand sind, dann steht der »böse Russe« bei seinem Blitzkrieg (woher habe ich das Wort nur?) ja noch schneller vor unserer Tür. Nein, der potentielle Angreifer errichtet – wie schon unter Hitler – Brücken und Autobahnen Richtung Osten oder setzt während des Krieges zuvor vom Feind zerstörte Brücken provisorisch wieder in Stand. Er will schnell vorwärts. Er braucht für die Besetzung eines so großen Landes wie Russland schnell unglaublich große Mengen an Nachschub. Der Verteidiger dagegen möchte keine Brücken, sondern Hindernisse, und sei es eine andere Spurweite der Bahn. Es genügt ihm, dass keiner durch kommt. Je mehr Brücken in seine Richtung marode sind, desto besser. Der sich in der Defensive befindende militärische Verband sprengt sogar Brücken, um dem Gegner die Offensive und den Nachschub zu erschweren. Auch im Mittelalter wurden zur Verteidigung einer Burg nicht Brücken gebaut, sondern die eine Zugbrücke hochgezogen. Zur Verteidigung wurden Gräben errichtet. Beim Überwinden von Wasserhindernissen gab und gibt es für den Angreifer stets besonders viele Opfer. Deshalb hat der Angreifer zunächst ein stärkeres Interesse an einer Brücke als der Verteidiger. Erst wenn letzerer in die Offensive geht, im Laufe der Kampfhandlungen, werden die Rollen getauscht. Dann baute die Rote Armee der UdSSR die Brücken behelfsweise wieder auf, die Wehrmacht sprengte sie. Zur Vorbereitung eines Angriffskrieges, um Menschen und Material vorbereitend in eine möglichst nahe Position zu bringen, später dann für den Nachschub,sind gute Brücken unerlässlich. Deshalb findet dieser Posten der Ausgaben beim fünf Prozent Aufrüstungsziel der NATO auch vollkommen zutreffend seinen Platz.
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