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Aus: Ausgabe vom 01.09.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

So leben die infamen Menschen

Moritat der gemütlichen Amoralität: François Ozons neuer Film »Wenn der Herbst naht«
Von Manfred Hermes
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Anfangs einsam: Michelle (Hélène Vincent)

Donzy, nicht weit von Sancerre und in der Region Bourgogne-Franche-Comté gelegen, ist ein Ort behaglichster Provinzialität. Die Bewohner sind freundlich, das Straßenbild hübsch, die Laizität wird noch hochgehalten. Auf der Fassade von St. Caradeuc prangen die schwarzen Majuskeln der Aufschrift »République Française – Liberté, Égalité, Fraternité«, als Michelle (Hélène Vincent) nach der Messe die Kirche verlässt.

In dieser unaufgeregten und übersichtlichen Welt verlebt die gut situierte Seniorin ihren Ruhestand in einem schönen Haus mit Garten. Ab und zu kommt die Nachbarin Marie-Claude vorbei (Josiane Balasko), die auch Michelles beste Freundin ist. Sonst ist sie viel allein.

Jetzt hat sich aber ihre Tochter mit dem Enkel angekündigt. Da will sie noch schnell in den Herbstwald, um für ein großes Essen Pilze zu suchen. Der Besuch verläuft dann allerdings unerquicklich. Statt sich an der reichen Mahlzeit zu erfreuen, nörgelt Tochter Valérie (Ludivine Sagnier) nur rum und zieht die ganze Zeit ein langes Gesicht. Es ist, als wäre sie nur deshalb aus Paris gekommen, um ihre Mutter anzupumpen.

Und dann wird ihr auch noch übel. Vermutlich hat sich ein Giftpilz in das Ragout verirrt. Valérie macht eine große Sache draus, unterstellt ihrer Mutter niedrige Absichten, ist untröstlich, bricht den Besuch umgehend ab. Schlimmer noch, sie nimmt auch ihren Jungen mit. Nun steht also ein böser Verdacht im Raum. Denn warum hat Michelle selbst das Pilzgericht nicht angerührt? Wusste sie nicht, dass Lucas keine Pilze mag?

Auch Marie-Claude hat Sorgen mit ihrem Nachwuchs. Ihr Sohn Vincent (Pierre Lottin) hat immer schon den Teufel beim Schwanz gepackt. Jetzt, wo er aus der Haft entlassen wird, könnte es wieder schwierig werden, denn auf schlechtbezahlte Lohnarbeiten hat er nicht die geringste Lust. Lieber würde er sich im Gastgewerbe etablieren und eine Bar aufmachen. Dazu braucht er aber ein Kapital, das er nicht hat.

Inzwischen ist auch stärker herausgearbeitet geworden, wie wenig Valérie ihr Leben im Griff hat. Sie lebt in Scheidung, ihr Mann hat sich längst nach Dubai abgesetzt. Niemand scheint sie zu mögen, selbst ihr Sohn fühlt sich bei seiner Oma wohler. Nur hat ihm Valérie nach dem Pilzvorfall jeden Kontakt mit ihr untersagt. Ersatzweise wendet sich die noch stärker vereinsamte Michelle nun Vincent zu.

Der auf eine herbe, räudige Weise gutaussehende Mann kontaminiert alle Szenen mit einer kriminellen Bedrohlichkeit, die auch deutlich erotisch aufgeladen ist. Ist Michelle an ihm etwa auch sexuell interessiert? Das wäre ein für Ozon nicht untypisches Szenario (durch das hier seltsamerweise auch ein Hauch der Provinzfilme von Alain Giraudie weht).

Immerhin gewährt Michelle Vincent den nötigen Kredit, so dass er sein Projekt tatsächlich umsetzen kann. Zur Einweihungsfeier lässt die Gönnerin die Wattejacke und das bequeme Wollzeug zu Hause, das Haar herunter und legt ein ziemlich freizügiges Kleid an. Damit zeigt die betagte, gutmütige Dame allen in größter Deutlichkeit, dass in ihr noch etwas von dem »good time girl« steckt, das sie früher also wohl mal war.

Und so wird bald auch aufgedeckt, worin eigentlich die großen Spannungen zwischen Valérie ihrer Mutter bestehen. Sie hat in einem früheren Leben als Prostituierte gearbeitet (ebenso wie Marie-Claude, Vincents Mutter, die sie aus dieser Zeit kennt). Die Tochter konnte sich nie mit der infamen Seite ihrer Abkunft arrangieren und bleibt darin unerbittlich. Das macht sie zu einer umgekehrten »Marnie«, sie hat zwar klaglos die Pariser Eigentumswohnung ihrer Mutter abgestaubt, die soll sich aber trotzdem mit der Rolle der ewig Schuldigen zufriedengeben. Diese Aufstellung wirkt so unüberwindbar, dass Valérie aus der Position des mürrischen Klagens in diesem Leben kaum herausfinden wird.

Vincent, der Michelles Kummer versteht (und ja selbst das Kind einer Prostituierten ist), fährt zu Valérie nach Paris, um zwischen Mutter und Tochter zu vermitteln oder Valérie ein erwachseneres Verhalten nahezulegen. Danach ist sie tot, sie hat einen Sturz vom Balkon nicht überlebt.

Viele Tränen werden der jungen Frau nicht nachgeweint. Eher scheint ihr schauriges Schicksal klammheimliche Erleichterung auszulösen. Beim Zuschauer sowieso, da Ozons Erzählung ganz auf die gütige alte Hauptfigur fokussiert und für die immer nur missmutige Tochter nicht viel an Empathie übrig bleibt.

Es wird aber bis zum Schluss unklar bleiben, ob der Tod der Tochter ein Unfall oder Suizid war, oder ob Vincent beim Sturz vom Balkon vielleicht doch nachgeholfen hat. Ozon legt unverdrossen Indizien und Verdachtsmomente aus, auch die Polizei rückt immer näher, da auch hier der Suizidthese misstraut wird. Nun befindet man sich auch schon im letzten Fünftel des Films, das heißt, für intensive Ermittlungen ist die Zeit bereits davongelaufen. Die Kommissarin dreht also bei, schließlich ist außer der Toten keiner geschädigt worden, und selbst dem Sohn, der inzwischen bei seiner Großmutter lebt, scheint die Mutter nicht zu fehlen. Und ohnehin lag Ozon nichts ferner, als seine Herbstmoritat als Krimi durchzuführen.

Statt Verdachtsmomente anzuhäufen, spannend Fäden zu verknüpfen und Täter zu überführen, wird hier das Moralische selbst unterminiert. Die Moral der (insinuierten) Mordtat entfaltet sich in einer Relativierung. In »Wenn der Herbst naht« wird das Tötungstabu gleichsam mürbe gemacht.

Die Schlusswendung fügt dann noch etwas an, das für Ozon nicht nur nicht untypisch, sondern immer schon vorauszusetzen ist: Inzwischen sind einige Jahre ins Land gegangen, Lucas studiert kulturwissenschaftliche Fächer in Paris und ist zum Homosexuellen herangereift. Auf Besuch in der Provinz wirft er Augen auf Vincent, immer noch, oder auch: trotzdem. Denn nur er kann wissen, wer der Mörder seiner Mutter ist.

Sind die Moralaspekte in diesem Film nur fragwürdig, so führt dieser Schlusspunkt in die Nähe des Kitsches. In Ozons Verständnis ist nämlich »homo« ein ausreichend süßes Gift oder die kritische Würze für die gemütlich illusionären Gesellschaftsbilder, die zu erzeugen ihm ja ebenso wichtig ist. Aber nun gut. Der Herbst stimmt milde, und das Produkt ist handwerklich robust genug gemacht, außerdem unterhaltsam. Erstaunlich ist auch, wie pünktlich Ozon die jährliche Lieferung seines Films an die Jahreszeit des jeweiligen Starttermins angepasst zu haben scheint.

»Wenn der Herbst naht«, Regie: ­François Ozon, Frankreich 2024, 104 Min., bereits angelaufen

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