Den Krieg entmystifizieren
Von Abdolbaset Soleimani
Die öffentliche Darstellung des Konflikts zwischen Iran und Israel konzentriert sich zumeist auf unmittelbare Bedrohungsszenarien: Atomprogramme, religiös-ideologische Gegensätze, nationale Sicherheit, Terrorismus. Doch diese diskursive Oberfläche verdeckt die tieferliegenden strukturellen Dynamiken, die den kurzen Krieg, der am 13. Juni 2025 mit einem Angriff Israels auf den Iran begann, nicht als Ausnahme, sondern als Normalform spätkapitalistischer Weltordnung erscheinen lassen.
Im 21. Jahrhundert haben Kriege zunehmend eine besondere systematische Funktion – nicht nur als Reaktion auf äußere Bedrohungen, sondern als produktives Moment der Reproduktion von Herrschaft. In einer Ära multipler Krisen – ökologisch, wirtschaftlich, geopolitisch – dient Krieg als Mittel, um ökonomische Desintegration, politische Destabilisierung und soziale Desorientierung aufzuhalten bzw. zu verlangsamen. Iran und Israel sind in dieser Hinsicht keine Sonderfälle, sondern paradigmatische Erscheinungen. Beide Staaten befinden sich in tiefen Legitimationskrisen, die durch ökonomischen Druck, politische Polarisierung und soziale Unruhen verschärft werden. Die Antwort beider Regime besteht in der Externalisierung innerer Widersprüche – durch außenpolitische Eskalation, Aufrüstung, Feindbildproduktion. Krieg wird hier zur Regierungspolitik, er hilft bei der Legitimation autoritärer Kontrolle und der Zerschlagung oppositioneller Bewegungen.
Eine solche Perspektive verweigert sich der moralischen Dichotomie von Gut und Böse, Freund und Feind. Sie fragt statt dessen nach den materiellen Bedingungen, unter denen Krieg möglich und notwendig wird: Wer profitiert von den neuen Frontlinien? Wer verliert durch die Entgleisung diplomatischer Mechanismen? Und welche Alternativen eröffnen sich jenseits nationalstaatlicher Logik?
Krieg ist heute weniger ein geopolitischer Ausnahmefall als vielmehr ein regulärer Mechanismus – ein Instrument, das sowohl kapitalistische Akkumulationsdynamiken als auch staatliche Herrschaftsformen stabilisieren soll. Der Konflikt zwischen Iran und Israel wird damit zu einem Brennglas für größere Transformationsprozesse, die die globale Ordnung grundlegend verändern.
Krise der Weltordnung
Seit Beginn der 2010er Jahre verdichtet sich eine Vielzahl von Krisen, die die Grundpfeiler der liberalen Weltordnung in Frage stellen. Die globale Finanzkrise von 2008 war kein einmaliger Betriebsunfall, sondern markierte den Auftakt eines anhaltenden Erosionsprozesses. Internationale Institutionen wie die WTO oder die Weltbank verlieren an Glaubwürdigkeit, multilaterale Abkommen werden gebrochen, und die normative Autorität des Westens wird zunehmend in Frage gestellt – nicht nur im globalen Süden, sondern auch durch seine eigenen Bevölkerungen.
Zugleich verschärfen sich ökologische, soziale und politische Konflikte weltweit. Klimakrise, Ressourcenknappheit, Pandemien, autoritäre Regressionen und eine zunehmende Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit schaffen eine Atmosphäre permanenter Unsicherheit. Die liberale Demokratie, lange Zeit als Modell globaler Stabilität propagiert, gerät unter Legitimationsdruck – sowohl durch rechte autoritäre Bewegungen als auch durch antikapitalistische soziale Proteste.
In diesem Kontext wird deutlich, dass der Krieg nicht bloß als militärisches Mittel zur Machtdemonstration oder -erweiterung fungiert, sondern als systemischer Bestandteil spätkapitalistischer Governance. Krieg hilft, innergesellschaftliche Spannungen nach außen zu verlagern, soziale Bewegungen zu delegitimieren und neoliberale Krisenbewältigung durch nationale Mobilisierung zu ersetzen. Die ständige Produktion von Ausnahmezuständen, Notstandsmaßnahmen und außenpolitischer Eskalation schafft im Innern der Staaten eine hybride Form zwischen Demokratie und Autoritarismus.
Der Übergang von ökonomischer Globalisierung zur geopolitischen Konfrontation ist Ausdruck einer strukturellen Erschöpfung des neoliberalen Projekts. Der Kapitalismus gerät nicht nur an ökologische und soziale Grenzen, sondern auch an seine Fähigkeit zur globalen Integration. Die Multipolarität der Weltordnung – sichtbar im Aufstieg Chinas und der anderen BRICS-Staaten, in regionalen Allianzen und neuen Investitionslogiken – erschüttert das westlich dominierte Zentrum. In dieser Gemengelage erscheint Krieg nicht mehr als letztes Mittel, sondern als normalisierter Modus zur Aufrechterhaltung hegemonialer Machtverhältnisse. Die zunehmende Entgrenzung zwischen Frieden und Krieg, zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen Sicherheit und Repression ist dabei kein Nebeneffekt, sondern integraler Bestandteil der neuen Weltordnung.
Permanenter Ausnahmezustand
Auf den ersten Blick erscheinen Iran und Israel als Antagonisten: die islamische Republik versus die zionistische Demokratie, antiimperialistisch versus prowestlich, religiös-fundamentalistisch versus säkular. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart sich eine tiefere strukturelle Ähnlichkeit: Beide Staaten agieren zunehmend im Modus des permanenten Ausnahmezustands – nicht als Reaktion auf äußere Bedrohungen, sondern als Antwort auf innere Legitimationskrisen.
Im Iran haben sich in den vergangenen Jahren ökonomische Erschöpfung, politische Apathie und soziale Aufstände überlagert. Die Proteste gegen das Regime – insbesondere getragen von Frauen, Arbeiterinnen und Arbeitern sowie ethnischen Minderheiten – sind Ausdruck einer breiten Entfremdung von der politischen Ordnung. Im Iran etwa lässt sich dies an zwei jüngeren Protestwellen verdeutlichen.
Die landesweiten Aufstände unter dem Slogan »Jin, Jiyan, Azadî« (Frau, Leben, Freiheit) begannen am 16. September 2022, nach dem Tod von Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. Innerhalb weniger Wochen erfassten sie über 150 Städte mit Hunderttausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden mehr als 500 Demonstrierende getötet, rund 20.000 Personen verhaftet und mehrere Aktivistinnen und Aktivisten später hingerichtet.
Bereits rund ein Jahr zuvor hatte es in der Provinz Chuzestan heftige Proteste gegen die akute Wasserknappheit gegeben. Sie begannen am 15. Juli 2021 und breiteten sich in den folgenden Tagen auf die Provinzen Lorestan, Tschaharmahal und Isfahan aus. Laut unabhängigen Berichten wurden mindestens neun Personen erschossen und Hunderte festgenommen. Das autoritäre System antwortete mit systematischer Repression, Überwachung und einer konfrontativeren außenpolitischen Rhetorik. Damit soll die »nationale Einheit« durch die Externalisierung von Konflikten – etwa gegenüber Israel oder dem Westen – künstlich hergestellt werden.
Auch Israel, oft als »einzige Demokratie im Nahen Osten« bezeichnet, durchlebt eine tiefe innere Fragmentierung. Die rechte und religiöse Regierung treibt die Aushöhlung der Gewaltenteilung, die Marginalisierung von Palästinenserinnen und Palästinensern sowie die Legitimierung kolonialer Siedlungspolitik voran. Massenproteste gegen die Justizreform, innere Polarisierung und internationale Kritik lassen die staatliche Stabilität fragiler erscheinen denn je. Auch in Israel kam es zuletzt zu zwei bemerkenswerten Protestbewegungen gegen die Regierungspolitik.
Von Januar bis Dezember 2023 fanden wöchentliche Massenkundgebungen gegen die Justizreform der Regierung Netanjahu statt. Ihren Höhepunkt erreichten sie im März und Juli 2023, als allein in Tel Aviv über 200.000 Menschen auf die Straße gingen, unterstützt von Zehntausenden in anderen Städten. Es kam zu vereinzelten Festnahmen, immerhin aber zu keinen Todesopfern. Im Oktober 2024 begannen in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem Demonstrationen von Kriegsgegnerinnen und -gegnern gegen den Gazakrieg. An ihnen beteiligten sich jeweils mehrere tausend Menschen; Dutzende wurden festgenommen. Auch in Israel dient also der Krieg – insbesondere gegen Gaza, aber auch durch die ständige Eskalation gegenüber Iran – als politisches Instrument zur Sammlung nationalistischer Kräfte und zur Ablenkung von internen Widersprüchen.
Was beide Regime verbindet, ist die bewusste Herstellung eines Ausnahmezustands als Normalmodus politischer Herrschaft. Die innere Krise wird nicht gelöst, sondern verwaltet – durch Militarisierung, Repression und das Spiel mit der Angst. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen innerer Sicherheit und äußerer Bedrohung, zwischen Polizei und Militär, zwischen Innenpolitik und Geopolitik. Diese Feststellung bedeutet keine Gleichsetzung der beiden Staaten, sondern eine Kontextualisierung ihrer autoritären Tendenzen im Rahmen globaler Krisen. Der »permanente Ausnahmezustand« ist nicht nur ein juristisches Konzept – er ist eine politische Realität.
Die China-Iran-Bahn
Im medialen Diskurs über den Nahostkonflikt dominieren Bilder von Raketenangriffen, Drohnenschlägen und diplomatischen Drohungen. Weniger Aufmerksamkeit erhält jedoch ein Aspekt, der im Schatten militärischer Rhetorik auf eine stille Revolution hindeutet: die infrastrukturelle Neuausrichtung globaler Macht durch strategische Konnektivität. Die geplante und teilweise bereits realisierte Eisenbahnverbindung zwischen China und Iran ist dabei mehr als ein logistisches Projekt – sie ist ein Paradebeispiel für geopolitische Einschnitte.
Die China-Iran-Bahn ist Teil der chinesischen Belt-and-Road-Initiative (BRI), die auf den Aufbau eines transkontinentalen Netzes aus Handelsrouten, Stromtrassen und Kraftwerken sowie anderen Infrastrukturprojekten abzielt.
Die neue Bahnverbindung beginnt in der chinesischen Stadt Xi’an, führt über Lanzhou und Ürümqi nach Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan, bevor sie die iranische Grenze bei Sarakhs überschreitet. Von dort verläuft die Strecke über Maschhad und Teheran bis zum Güterterminal Aprin nahe der Hauptstadt. Die Gesamtlänge der Route beträgt rund 10.400 Kilometer. In das Projekt sind zudem strategische Häfen eingebunden, die sowohl den Zugang zum Persischen Golf als auch zum Indischen Ozean ermöglichen – insbesondere Bandar Abbas und Tschabahar im Süden Irans. Auf chinesischer Seite zählen Häfen wie Lianyungang und Tianjin zu den relevanten Knotenpunkten.
Die Bahnverbindung verkürzt die Transportzeit von China in den Iran auf etwa 14 bis 15 Tage – verglichen mit 30 bis 40 Tagen auf dem Seeweg. Nach Angaben offizieller Stellen ist das Frachtaufkommen auf dieser Route im ersten Halbjahr 2025 um 260 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen. Allein im Jahr 2024 belief sich das bilaterale Handelsvolumen auf rund 18 Milliarden US-Dollar, vor allem in den Bereichen Energie, petrochemische Produkte und Industriegüter.
Ein symbolträchtiger Meilenstein war der erste Güterzug aus Xi’an, der am 25. Mai 2025 in Aprin ankam – beladen mit Solarmodulen für iranische Energieprojekte. Damit wurde nicht nur ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt fertiggestellt, sondern auch die westliche Kontrolle über Handelsrouten und die Energiewirtschaft verringert. Der Iran spielt im Rahmen der BRI-Projekte eine zentrale Rolle – geographisch wie strategisch. Er fungiert als Brückenkopf zwischen Ostasien, Zentralasien und dem Nahen Osten. Für den Iran bedeutet dieses Projekt eine Chance zur geoökonomischen Emanzipation. Die Umgehung von Seeblockaden, die Diversifizierung von Exportwegen und die Integration in nichtwestliche Märkte bieten potentiellen Spielraum zur Verringerung von Abhängigkeiten. Doch genau diese Aussicht auf Souveränität macht das Projekt zur Zielscheibe geopolitischer Sabotage.
Politisches Schweigen
Inmitten all der medialen Aufregung um Raketen, Vergeltungsschläge und diplomatische Eskalationen bleibt ein zentrales Moment des gegenwärtigen Konflikts weitgehend unbenannt: sein geoökonomischer Hintergrund. Während die politische Rhetorik von moralischen Anklagen und dem Postulat nationaler Selbstverteidigung dominiert wird, bleibt verborgen, was die eigentlichen tektonischen Verschiebungen antreibt – nämlich die Kontrolle über Infrastruktur, Investitionsflüsse und wirtschaftliche Souveränität.
Die USA inszenieren sich als Verteidiger einer regelbasierten Ordnung, während sie gleichzeitig systematisch jene Projekte sabotieren, die ihrer geopolitischen Vormacht schaden könnten. Die Sanktionen gegen Iran, die Bedrohung chinesischer Infrastrukturvorhaben, die Ausgrenzung Russlands und seiner Rohstoffe vom Weltmarkt – all das ist weniger moralisch motiviert als vielmehr geoökonomisch kalkuliert. Die »Freiheit« der Märkte gilt nur, solange sie dem hegemonialen Zentrum nützt.
Der Iran wiederum vermeidet es oft, die Angriffe auf seine kritische Infrastruktur offen zu benennen – etwa bei mysteriösen Explosionen, Cyberattacken oder internationalen Blockaden, deren Tragweite unbekannt bleibt. Dieses Schweigen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck strategischer Ambivalenz. Einerseits will man keine Eskalation heraufbeschwören, andererseits möchte man Investoren aus China, Indien oder dem globalen Süden nicht verschrecken. So entsteht ein doppeltes Schweigen: eins durch Repression, das andere aus Kalkül.
Diese Sprachlosigkeit ist politisch folgenreich. Indem strukturelle Ursachen – wie etwa Kapitalflüsse, Lieferketten oder Energieachsen – aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt werden, wird der Krieg mystifiziert. Er erscheint als kultureller Konflikt, als religiöser Fanatismus oder als Sicherheitsfrage – aber nie als Ausdruck konkurrierender geoökonomischer Projekte. Analysen, die Machtverhältnisse für die Bevölkerung sichtbar machen könnten, unterbleiben in der Folge. Dieses geoökonomische Schweigen betrifft jedoch nicht nur Staaten. Auch Medien, Thinktanks und internationale Organisationen reproduzieren diese Unsichtbarkeit – sei es aus Unkenntnis, politischer Rücksichtnahme oder institutioneller Abhängigkeit. Wer Konnektivität analysieren will, muss gegen die Trägheit der offiziellen Narrative anargumentieren.
Verkörperte Gewalt
Doch Krieg ist nicht nur eine Frage von Geopolitik, Militärstrategien oder staatlichen Interessen. Er ist auch eine Realität, eine Erfahrung, die in Körper eingeschrieben wird, in Alltagspraktiken, in Emotionen, in Traumata. In Gesellschaften wie Iran und Israel, die sich in permanenten Konfliktlagen befinden, wird die Militarisierung nicht nur an der Frontlinie sichtbar, sondern im sozialen Gewebe selbst.
Im Iran manifestiert sich die Gewalt des Staates gegen die eigene Bevölkerung in körperlicher Kontrolle: durch Zwangsverschleierung, Polizeigewalt gegen Frauen, systematische Folter in Gefängnissen, Repression gegen Arbeiterinnen und Arbeiter, die streiken, und ethnische Minderheiten, die marginalisiert werden. Der Krieg nach außen ist hier untrennbar mit dem Krieg nach innen verbunden – ein Mechanismus zur Disziplinierung jener Körper, die sich staatlicher Kontrolle entziehen oder sie in Frage stellen.
In Israel hingegen prägt vor allem die Militarisierung die gesellschaftlichen Strukturen. Der obligatorische Militärdienst prägt Biographien, Erziehung, Geschlechterrollen und Berufswege. Gleichzeitig erfahren Palästinenser eine allgegenwärtige körperliche Gewalt: an Checkpoints, bei Hauszerstörungen, durch Siedler. Die Besatzung ist kein Ausnahmezustand – sie ist Normalität für Millionen von Menschen, deren Alltag durch eine permanente Logik der Kontrolle bestimmt wird.
Körperliche Gewalt ist dabei nicht nur physisch. Sie wirkt immer auch psychisch, emotional, symbolisch. Sie produziert Angst, Ohnmacht, Selbstzensur – aber auch Widerstand. In beiden Gesellschaften entstehen Formen des Aufbegehrens, die über politische Parolen hinausgehen. Iranische Frauen, queere Aktivistinnen und Aktivisten, jüdische Antizionistinnen und Antizionisten, palästinensische Jugendliche – sie alle setzen ihre Körper als politische Mittel ein. Der Körper wird zur Bühne des Dissens, zum Ort der Wahrheit gegen eine Rhetorik der Sicherheit, die Leben entwertet. Diese verkörperte Dimension des Krieges verweist auf eine tiefere Wahrheit: dass keine politische Ordnung stabil bleibt, wenn sie auf der systematischen Leugnung des Leids beruht. Die Körper der Marginalisierten erzählen Geschichten, die in offiziellen Diskursen unsichtbar bleiben – und genau darin liegt ihre Sprengkraft. In der Sichtbarmachung, in der Weigerung, sich auszulöschen, wächst ein anderer Begriff von Sicherheit: nicht als Kontrolle, sondern als Fürsorge und solidarische Beziehung.
Subversive Solidarität
In einer Welt wachsender Polarisierung scheint internationale Solidarität oft wie ein nostalgisches Relikt aus einer anderen Zeit: eine Idee, die angesichts nationalistischer Mobilisierung, repressiver Regime und ökonomischer Verwerfungen an Strahlkraft verloren hat. Doch gerade im Kontext des Iran-Israel-Konflikts zeigt sich, dass Solidarität nicht nur möglich, sondern notwendig ist – jenseits von ethnischer Zugehörigkeit oder religiösem Bekenntnis.
Im Iran formieren sich feministische Bewegungen, die nicht nur gegen patriarchale Gewalt kämpfen, sondern auch gegen staatliche Repression, neoliberale Verarmung und imperiale Einflussnahme. Ihr Slogan »Jin, Jiyan, Azadî« ist nicht nur Widerstand gegen die Mullahs, sondern auch als ein globaler Aufruf zu verstehen. Diese Bewegungen verdienen praktische, materielle und politische Unterstützung – auch durch eine linke Öffentlichkeit im Westen.
Gleichzeitig gibt es weltweit jüdische Stimmen, die sich der militaristischen Logik des israelischen Staates widersetzen. Antizionistische Initiativen, pazifistische Gruppen, radikale Dissidentinnen und Dissidenten – sie stellen sich gegen die Gleichsetzung von Israel-Kritik mit Antisemitismus und fordern eine Politik der Gerechtigkeit, auch für die palästinensische Bevölkerung. Diese Stimmen zeigen, dass jüdische Identität nicht mit staatlicher Gewalt verknüpft sein muss – und dass Kritik an Israel aus der jüdischen Tradition selbst hervorgehen kann.
Die Palästinenserinnen und Palästinenser – ob in Gaza, im Westjordanland oder in der Diaspora – stehen im Zentrum eines globalen Kampfes um Sichtbarkeit und Würde. Ihre Stimmen werden allzuoft instrumentalisiert oder ignoriert, von arabischen Regimen ebenso wie von westlichen Medien. Eine echte Solidarität darf ihre Kämpfe nicht vereinnahmen, sondern muss sie unterstützen.
Internationale Solidarität ist heute kein moralisches Luxusgut, sondern ein Überlebensprinzip. Sie beginnt dort, wo Menschen sich weigern, in den Dualismen von Freund und Feind zu denken. Sie entsteht im Widerstand gegen die Normalisierung von Gewalt, im Teilen von Wissen, im Schutz gefährdeter Körper, in der materiellen Unterstützung und im Aufbau transnationaler Allianzen. Sie ist fragmentarisch, unvollständig, widersprüchlich – aber unverzichtbar.
Diese Formen der Solidarität erfordern neue Formen der Organisation: dezentrale Netzwerke, kollektive Wissensproduktion, digitale Archive des Widerstands. In einer Welt, in der autoritäre Staaten und transnationale Konzerne die Kommunikationsräume zunehmend kontrollieren, wird die Autonomie der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation zur Überlebensfrage. Solidarität ist dabei kein bloßes Gefühl der Empathie, sondern ein praktischer Prozess der Umverteilung von Ressourcen, der Schutz gefährdeter Stimmen und der Aufbau widerständiger Infrastrukturen – jenseits von Staat und Markt. Deshalb ist Solidarität subversiv: Sie stellt die vermeintliche Alternativlosigkeit der Gewalt in Frage. Kämpfe gegen Militarismus, Autoritarismus und ökonomische Enteignung müssen jenseits nationaler oder religiöser Trennlinien geführt werden. Jüdische, muslimische und säkulare Stimmen, feministische Bewegungen, die Arbeiterklasse und marginalisierte Gruppen können gemeinsam eine Logik jenseits von Freund und Feind entwerfen. Nur grenzüberschreitende Solidarität hat das Potential, die zerstörerische neue Normalität des Krieges zu durchbrechen.
Abdolbaset Soleimani ist Arbeiter und Jurastudent. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der politischen Ökonomie, der historisch-materialistischen Krisentheorie, der feministischen Kritik sowie in Analysen zur geoökonomischen Konnektivität und Gewalt.
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- jW15.07.2025
World War 3
- Suhaib Salem/REUTERS31.12.2024
Präsident mit Vorausblick
- Evelyn Hockstein/Pool Reuters/AP/dpa17.04.2024
Auf der Antiseidenstraße