junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Dienstag, 30. April 2024, Nr. 101
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 17.04.2024, Seite 12 / Thema
Welthandel

Auf der Antiseidenstraße

Mit dem »India Middle East Europe Economic Corridor« setzen EU und USA auf neue Handelsrouten im Nahen Osten. Der Umsetzung stehen aber zahlreiche Schwierigkeiten im Weg
Von Tim Krüger
12-13.jpg
Hecken was aus. Mohammed bin Salman Al Saud, Kronprinz von Saudi-Arabien, Narendra Modi, Premierminister von Indien, und Joe Biden, Präsident der USA, auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi, September 2023

Dass Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine besondere Vorliebe für Karten und Schaubilder besitzt, durfte die UN-Vollversammlung in New York nun schon mehr als einmal erleben. Doch während das derzeitige Oberhaupt des israelischen Kriegskabinetts noch im Jahre 2012 mit einer besonders künstlerisch wertvollen Zeichnung einer Bombe eindringlich die Weltgemeinschaft vor der vermeintlich »finalen Phase« des iranischen Atomprogramms warnte und für 2013 den »Point of no return« prophezeite, an dem der Aufstieg des islamistischen Regimes zur Atommacht nicht mehr aufzuhalten sei, wollte der ehemalige Kommandosoldat bei der jüngsten UN-Vollversammlung im September 2023 wohl mit freudigeren Nachrichten aufwarten.

Die Karte mit der fettgedruckten Überschrift »The New Middle East«, die Netanjahu dieses Mal in die Kameras hielt, zeigte Israel und jene arabischen Staaten, mit denen in den vergangenen Jahren ein erfolgreicher Aussöhnungsprozess eingeleitet werden konnte. Der israelische Regierungschef prognostizierte eine weitere Annäherung Saudi-Arabiens und Israels und verkündete sichtlich stolz, die Öffnung eines neuen Handelskorridors von Asien nach Europa. »Wir werden Indien und Europa per Schiff und Schiene, mit Energieleitungen und Glasfaser verbinden«, so Netanjahu in seiner Rede. Er erklärte, dass der gesamte Nahe Osten sich wandele, und sprach bedeutungsvoll von einem »neuen Wendepunkt der Geschichte«. Mit dickem rotem Filzstift zeichnete Netanjahu die Route, die zukünftig Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel und die Staaten der Europäischen Union miteinander verbinden soll. Für Empörung sorgte Netanjahu mit seinem Auftritt dennoch, denn die von ihm gezeigte Karte des neuen Nahen Ostens wies die Gebiete unter Kontrolle der Palästinensischen Nationalbehörde in der Westbank sowie den Gazastreifen als Teil des israelischen Staatsgebietes aus.

Strategische Alternative

Doch Netanjahus Rede ist mehr als nur ein Wunschtraum. Mit dem neuen »Korridor« zwischen Asien und Europa ist der auf dem vergangenen G20-Gipfel in Neu-Delhi verkündete »India Middle East Europe Economic Corridor«, kurz IMEC, gemeint. Das unter Federführung der USA entwickelte Megaprojekt soll in Zukunft Indien und die EU über die Arabische Halbinsel und das Mittelmeer durch ein Netz von Schiffahrtswegen und Eisenbahnstrecken verbinden und damit den Warentransit von Indien nach Europa beschleunigen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen äußerte anlässlich der wirksam inszenierten Vorstellung des ambitionierten Projektes, der IMEC sei nicht weniger als »historisch«. Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich sowie Italien unterzeichneten während des Gipfels in Neu-Delhi ein sogenanntes Memorandum of Understanding. In der Absichtserklärung, die am 9. September 2023 auf der Website des Weißen Hauses veröffentlicht wurde, heißt es, der IMEC solle dazu dienen »die wirtschaftliche Entwicklung durch erhöhte Konnektivität und die ökonomische Integration zwischen Asien, dem Arabischen Golf und Europa anzuregen«. Der IMEC soll sich laut dem Dokument aus zwei Korridoren zusammensetzen, einem »Ostkorridor«, der den indischen Subkontinent per Schiff mit den Häfen der Vereinigten Arabischen Emirate verbinden soll, sowie einem »Nordkorridor«, der per Schiene bis nach Israel und weiter mit dem Schiff nach Europa führen wird. Neben den Schienen sollen in einem Schritt auch Elektrizitäts- und Glasfaserkabel sowie eine »Röhre für den sauberen Wasserstoffexport« verlegt bzw. gebaut werden.

Sollte das Vorhaben tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden, dürfte die Handelsstraße in der Tat Auswirkungen historischen Ausmaßes haben. Das gigantische Infrastrukturprojekt wird von Experten als strategische Alternative der Vereinigten Staaten zur chinesischen »Belt and Road Initiative« (BRI) angesehen, einem langfristig angelegten Projekt zum Ausbau von Schienen- und Straßennetzen sowie Schiffahrtswegen, das die Volksrepublik seit 2013 in Kooperation mit mehr als 150 Staaten weltweit entwickelt. Umgangssprachlich ist die chinesische Initiative, die den Fluss chinesischer Waren auf die Märkte Europas sowie den Zugang zu strategischen Ressourcenvorkommen auf dem afrikanischen Kontinent sichern soll, als »Neue Seidenstraße« bekannt. Und so betitelte Der Spiegel denn auch das auf dem G20-Gipfel verkündete Projekt schon als »Anti-Seidenstraße« und erkannte darin die lang erwartete »Antwort des Westens auf China«. Finanziert werden sollen die notwendigen Baumaßnahmen unter anderem durch die EU-Initiative »Global Gateway«, die in den nächsten Jahren bis zu 300 Milliarden Euro für Investitionen in Infrastrukturmaßnahmen in Schwellen- und Entwicklungsländern zur Verfügung stellen will.

Doch das Vorhaben besteht aus mehr als einer alternativen Handelsroute. Es muss in erster Linie als ein Versuch der US-amerikanischen Führung unter Präsident Joseph Biden gewertet werden, den wachsenden chinesischen Einfluss im Nahen Osten zurückzudrängen. China hat sich in den vergangenen Jahren zu einem ernstzunehmenden Akteur und Partner vieler Mächte in der Region entwickelt. So stellt die Volksrepublik heute den größten Abnehmer saudischen und emiratischen Rohöls dar und drängt offensiv auch in andere Bereiche der Wirtschaft. Auf dem Automobilmarkt Saudi-Arabiens dominieren mittlerweile chinesische Autobauer. 2022 deckten sie mit 42 Prozent den größten Teil der Gesamtimporte in das arabische Königreich. China lag dabei mit großem Abstand vor Japan mit 27,8 Prozent aller importierten Autos. Auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten und weiteren Golfstaaten ist die Tendenz steigend. Daneben ist der chinesische Technikriese Huawei hinsichtlich der Entwicklung der digitalen Infrastruktur Saudi-Arabiens zum wahrscheinlich wichtigsten Partner des Landes aufgestiegen.

Mit großer Sorge beobachten die USA zudem Signale aus Riad und Dubai, die darauf hindeuten, dass die beiden Großexporteure von Rohöl sich im Handel auf die chinesischen Forderungen nach einer Abwicklung der Zahlungen in Yuan einlassen könnten. Sollten die Golfmonarchien umschwenken und die Dollar-Bindung des Rohölpreises aufweichen, wäre dies ein verheerender Schlag für die US-amerikanische Dominanz. Der Einfluss, den die Volksrepublik China bereits im Nahen Osten gewonnen hat, zeigte sich wohl am deutlichsten bei der im März 2023 ausgehandelten Normalisierung der Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien. Teheran und Riad hatten sich im vergangenen Jahr unter chinesischer Aufsicht und Vermittlung auf einen Waffenstillstand in dem seit Jahren vom Krieg zwischen der jemenitischen Ansarollah-Bewegung, besser bekannt als Huthi-Milizen, und der saudisch geführten Kriegskoalition geeinigt. Besonders brisant war, dass die Einigung wohl ohne vorherige Abstimmung mit den USA zustande gekommen war. Zumindest deutete der wütende Protest des CIA-Direktors William Joseph Burns, der kommentierte, die USA seien »überrumpelt« worden, ganz in diese Richtung.

Nun soll mit dem IMEC offenbar der Versuch unternommen werden, den wachsenden chinesischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Die USA arbeiten darauf hin, China durch eine stärkere wirtschaftliche Verbindung der arabischen Staaten mit Indien wenn nicht an den Rand zu drängen, so doch durch stärkere Konkurrenz unter Druck zu setzen. Indien könnte durchaus eine Alternative zur Volksrepublik China werden, vorausgesetzt die aufstrebende Wirtschaftsmacht wird entsprechend durch Projekte wie den IMEC »gefördert«. Die Handelsroute, die laut Ursula von der Leyen für einen um 40 Prozent schnelleren Warenstrom sorgen soll, wäre dabei ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.

Fokus Indien

Schon seit längerem wird Indien bei den westlichen Herstellern vor allem im Bereich der Halbleiter- und Mikrochiptechnologie als Alternative zu China gehandelt. So tastete sich der Telekommunikations- und Computerriese Apple in den vergangenen Jahren vorsichtig auf den indischen Markt vor und investierte kräftig. Laut einem Bericht des Businessmagazins Bloomberg aus dem Jahr 2023 sollen mittlerweile sieben Prozent des Verkaufsschlagers I-Phone in Indien hergestellt werden. Dem Konzern gehe es darum, die Abhängigkeit von China Stück für Stück rückzubauen, so Bloomberg. Die der FDP nahestehende wirtschaftsliberale Friedrich-Naumann-Stiftung prognostizierte im vergangenen Jahr, dass mit steigenden Investitionen auf dem Subkontinent zu rechnen sei, da »internationale Konzerne nicht länger nur von der Produktion in China abhängig sein« wollten. Auch deutsche Konzerne würden sich zusehends in Indien engagieren, so die Stiftung, doch der Unterschied zu China sei immer noch immens. So machten Importe aus der Volksrepublik im Jahr 2022 192 Milliarden Euro aus, während indische nur mit 15 Milliarden Euro in der deutschen Außenhandelsstatistik zu Buche schlugen – Platz 24, noch hinter Dänemark.

Wohl auch, um dem Markt politisch etwas unter die Arme zu greifen, hat die Europäische Union vor dem Hintergrund der geopolitischen Spannungen und Machtverschiebungen seit dem Sommer 2022 die 2013 gescheiterten Verhandlungen über ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU wieder aufgenommen. Die EU-Volkswirtschaften, vor allem auch die deutsche, benötigen eine Alternative zur Volksrepublik China. Besonders in Zeiten, in denen die eigenen mächtigen Partner im Indopazifik zündeln und schon die kleinste Konfrontation rund um Taiwan ein weitreichendes Sanktionsregime zur Folge haben könnte, sollte die Abhängigkeit von den chinesischen Märkten deutlich verringert werden. Der IMEC würde vor diesem Hintergrund die nötige Infrastruktur liefern. Mit dem »Ostkorridor« wäre zudem dafür Sorge getragen, dass sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Indien auch über das Öl hinaus weiterhin produktiv entwickeln. Schon 2022 haben die Vereinigten Arabischen Emirate und Indien ein Freihandelsabkommen unterzeichnet, und für die kommende Zeit werden weitere Investitionen in Milliardenhöhe erwartet. In Anbetracht der Tatsache, dass Indien auch Teil des Wirtschaftsabkommens der BRICS-Staaten ist und die Vereinigten Arabischen Emirate zum Jahresbeginn dem Bündnis beigetreten sind, während Saudi-Arabien nach eigenen Angaben noch über eine Beteiligung nachdenkt, kann spekuliert werden, ob der geplante Wirtschaftskorridor wohl auch dazu dienen könnte, eine weitere Annäherung der arabischen Staaten an die Herausforderer der unipolaren Weltordnung von vornherein zu torpedieren.

Doch scheint es derzeit, als würde die Rechnung nicht so aufgehen wie auf dem G20-Gipfel geplant. Das Megaprojekt ist umstritten, nicht zuletzt, weil es eine Umgehung einflussreicher Akteure in der Region bedeuten würde. So versuchte sich vor allem die Türkei in den vergangenen Jahren und vor allem nach dem Einbruch des »Nördlichen Korridors« – der Landverbindung über die Russische Föderation und Belarus in die Europäische Union – infolge der russischen Invasion in die Ukraine ab Februar 2022 mit ihrem Territorium als Alternativroute für den Ost-West-Transfer in Stellung zu bringen. Der »Mittlere Korridor« führt dabei über den Westen Chinas, die Turkstaaten Zentralasiens und die Türkei in die EU und ist vor allem auch für die deutsche Wirtschaft weiterhin eine strategisch wichtige Verbindung, die wohl auch in nächster Zeit nicht aufgegeben werden wird.

Türkische Interessen

Ergänzt werden soll der »Mittlere Korridor« nun durch die »Iraq Development Road«, ein 17 Milliarden US-Dollar schweres türkisch-irakisches Infrastrukturprojekt, das in Zukunft den im Bau befindlichen Grand Faw Port im Golf von Basra über ein 1.200 Kilometer langes Schienen- und Straßenverkehrsnetz mit dem türkischen Hafen von Mersin verbinden soll. Auch die »Iraq Development Road« soll die Lieferzeiten von Asien nach Europa um 20 bis 25 Tage verringern und damit eine Alternative zur deutlich zeitintensiveren und derzeit und wohl auch in naher Zukunft instabilen Route durch den Suezkanal schaffen. Neben Gütern aus China könnte über die »Iraq Development Road« auch der Handel zwischen Indien und Europa problemlos abgewickelt werden. Der IMEC stellt das größte Konkurrenzprojekt zu der türkisch-irakischen Unternehmung dar. Dementsprechend reagierten die Vertreter der türkischen Regierung regelrecht erbost auf die Verkündung der Initiative.

Das größte Hindernis für die türkischen Projekte im Irak ist und bleibt allerdings weiterhin die Präsenz der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den nördlichen Regionen des Landes. So trafen sich am 14. März 2024 Vertreter der türkischen und irakischen Regierung in Bagdad, um über ein gemeinsames Vorgehen gegen die kurdische Befreiungsbewegung zu beraten (siehe jW vom 25.3.2024: Gemeinsam gegen die PKK). Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte in den vergangenen Wochen mehrfach mit einem Einmarsch in das Nachbarland gedroht, und es scheint, als ginge es der türkischen Regierung bei dem sich ankündigenden Vorstoß gegen die kurdische Guerilla vor allem auch um die eigenen ökonomischen Interessen. So titelten die beiden türkischen Journalisten Levent Kemal und Ragıp Soylu schon am Tag vor der irakisch-türkischen Zusammenkunft in Bagdad im Portal Middle East Eye, dass die Türkei eine »Militäroperation zur Sicherung des Straßen-Schienen-Projektes zum Golf« unternehmen werde. Dabei zitierten die beiden Journalisten eine nicht weiter genannte Quelle, vermutlich aus dem türkischen Staatsapparat, die festhält, dass »das Hauptziel der Türkei (…) sehr klar« sei. Es gehe darum, »die Präsenz der PKK in Metîna und Gare«, die das »Iraq Development Project ernsthaft gefährden« könnte, zu beenden. So sollen »zwei Ziele in einem Schritt erreicht« werden, nämlich die Sicherung der Grenze und die Umsetzung des vielversprechenden Bauprojektes. In Anbetracht des Memorandums zum IMEC muss die Türkei sich ranhalten, schnellstmöglich alle Hindernisse für die eigene Route aus dem Weg zu räumen, um nicht an den Spielfeldrand gedrängt zu werden.

Gleichzeitig steht zu erwarten, dass Ankara alles in seiner Macht stehende unternehmen wird, um der IMEC-Initiative möglichst viele Steine in den Weg zu legen. So könnten weitere durch die Türkei angezettelten Streitigkeiten rund um die Hoheitsrechte über die zwischen Griechenland und der Türkei umstrittenen Gewässer im Mittelmeer genutzt werden, um eine Umsetzung des IMEC hinauszuzögern. Auch die neuerdings wieder sehr enge Beziehung zwischen der palästinensischen Hamas und der Regierung Erdoğan bekommt vor diesem Hintergrund eine neue Bedeutung.

Doch auch anderen Akteuren in der Region dürfte der IMEC ein Dorn im Auge sein. Es leuchtet ein, dass die Volksrepublik China kein Interesse an der »Anti-Seidenstraße« haben kann, doch auch regionale Mächte wie die Islamische Republik Iran dürften sich an dem Projekt stören. Seit 2002 hatte der Iran gemeinsam mit Indien und Russland an der Entwicklung des weiterhin unvollendeten »International North-South Transport Corridors« (INSTC) gearbeitet. Der INSTC sollte Indien über den Iran und den Seeweg über das Kaspische Meer mit der Russischen Föderation verbinden und damit sowohl den Iran in eine vorteilhafte Position bringen als auch die Abhängigkeit Russlands von Importen über die zentralasiatischen Republiken verringern. Vor allem vor dem Hintergrund der anhaltenden und seit dem Februar 2022 verschärften westlichen Sanktionen gegen Russland und den Iran erhielt das geplante Projekt noch einmal eine größere Relevanz. Dass sich Indien mit dem IMEC nun stärker den westlichen Verbündeten zuwendet, dürfte weder für die Russische Föderation noch für den Iran ein Grund zur Freude sein.

Dabei könnte der seit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 rund um Gaza tobende Krieg den Gegnern des IMEC in die Karten spielen. Solange die Hamas wie auch die libanesische Hisbollah über ausreichende Artilleriekapazitäten verfügen, um den Hafen von Haifa zu treffen, dürften keine großen Investitionen zu erwarten sein. Der Hafen wird derzeit als Umschlagplatz der Güter im Rahmen des IMEC gehandelt. Zudem stellt das anhaltende und rücksichtslose Bombardement der israelischen Armee auf die Zivilbevölkerung Gazas die Regierungen Saudi-Arabiens und Jordaniens vor ein nur schwer zu lösendes Problem. Unter den aktuellen Umständen wird die Mehrheit der Bevölkerungen dieser Länder eine offene Kooperation mit dem israelischen Staat nicht akzeptieren.

Weitere Faktoren könnten ebenfalls für Schwierigkeiten sorgen. Auch der Hafen von Piräus, den die Schiffe aus Haifa in Zukunft anlaufen sollen, stellt einen Unsicherheitsfaktor dar. Denn der griechische Hafen gehört seit 2016 zu 67 Prozent dem chinesischen Konzern Cosco. Damit besitzt Cosco die Mehrheit der Anteile und kann über Nutzungsrechte von Pieren und Terminals mitentscheiden. Es bleibt offen, ob die am IMEC beteiligten Staaten planen, Anteile aufzukaufen, um so die Mehrheitsverhältnisse zu verändern, oder ob gar nach einer Alternative zu Piräus gesucht wird.

Kein Friedensprojekt

Derweil lassen sich aber zumindest einige der Beteiligten nicht von möglichen Risiken und auch nicht von dem blutigen Krieg in Palästina beirren. So forderte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis anlässlich eines bilateralen Dialogs zwischen Indien und der Hellenischen Republik am 21. Februar 2024 in Neu-Delhi, man solle das Projekt trotz des Gazakriegs fortsetzen. Schließlich handele es sich beim IMEC um ein »Friedensprojekt«. Schon wenige Tage zuvor war der indische Staatschef Narendra Modi zu einem Besuch in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu Gast, wo die möglichst schnelle Umsetzung des Projektes ganz oben auf der Tagesordnung der Gespräche stand. Vor allem Indien scheint angesichts der großen Wachstumschancen Druck zu machen.

Während manche Beobachter das Projekt aufgrund der angespannten Lage in der Region zu Beginn des Jahres schon für gescheitert erklärt hatten, meldete das Onlinemagazin The Diplomat, dass angesichts des durch die Angriffe der Huthis im Roten Meer um 80 Prozent geschrumpften Handelsvolumens durch den Suezkanal schon erste emiratische Firmen damit begonnen hätten, ihre Güter über den Landweg nach Haifa zu verfrachten.

Klar ist in jedem Fall, dass IMEC keine kurzfristige Unternehmung für die nächsten paar Jahre ist, sondern für seine Umsetzung in Jahrzehnten gerechnet werden muss. Mit der Initiative zum IMEC erreichen die zwischenstaatlichen Konfrontationen in der Region eine neue Stufe. Die Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im Nahen Osten und damit der Kampf um die Hegemonie auf der Welt scheint in eine neue Runde getreten zu sein. Ein »Friedensprojekt« dürfte der IMEC damit keinesfalls sein.

Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. März 2024 über die Pläne der Türkei im Nordirak: Gemeinsam gegen die PKK.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (18. April 2024 um 12:27 Uhr)
    Der Verfasser schreibt von möglichen Konflikten »des Westens« mit China, fast so als wären das Naturereignisse, doch das sind sie nicht: Mit der Landung von US-Truppen auf der zur chinesischen Provinz Fujian gehörenden, aber durch Truppen des Taibeier Regimes besetzten Insel Kinmen (in Pinyin: Jinmen; veraltet auch: Quemoy) direkt gegenüber der Stadt Xiamen (veraltet und nach lokalem Dialekt auch Amoy) sowie der Zusage gegenüber der philippinischen Regierung, sie bei einer Konfrontation mit China im Südchinesischen Meer »mit allen Mitteln« zu unterstützen, haben es die USA nun in der Hand, in der Region jederzeit einen nach dem »Dauerbrenner« Nordkorea weiteren Konflikt zu provozieren, damit die Beziehungen der Volksrepublik zu Westeuropa zu stören oder zu zerstören und dabei zugleich auch mit Indien einen Eckstein aus dem BRICS-Projekt herauszubrechen.
    Das würde jedoch genau auch den Erfolg des behandelten Projektes voraussetzen, ebenso wie übrigens den erfolgreichen weiteren NATO-Vormarsch in Transkaukasien (Georgien, Armenien, weniger Aserbaidschan nähern sich ihr gerade an) hin zu den zentralasiatischen Staaten im »Windschatten« Russlands.
    Aber damit Haifa zu dem Knotenpunkt werden könnte, von dem der Autor schreibt, müsste der Bluthund Netanjahu an die Kette gelegt und mit einer palästinensischen Marionettenregierung eine fiktive »Zweistaatenlösung« unter israelischer Dominanz erreicht werden! Das scheint Washington aber nicht zu gelingen! Die radikalen Siedler und der fanatische Antiarabismus in Israel machen das alles kaputt!
    Übrigen konnte auch durch den Wachankorridor (im äußerten Nordosten Afghanistans) eine chinesische Exportstraße nach Iran, in die Türkei und weiter gen Westen entstehen, die die USA nicht kontrollieren können. Das nur nebenbei. Aber deshalb wird auch die »uigurische Frage« immer weiter gegen Beijing instrumentalisiert: um auch diesen Weg zu behindern.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (17. April 2024 um 14:31 Uhr)
    Zitat: »Mit dem ›India Middle East Europe Economic Corridor‹ setzen die EU und die USA auf neue Handelsrouten im Nahen Osten. Doch der Umsetzung stehen zahlreiche Schwierigkeiten im Weg.« Dazu einige Bemerkungen: Erstens ist jeder Handelsweg, der darauf abzielt, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, wünschenswert. Warum jedoch der Titel »Auf der Antiseidenstraße« gewählt wurde, bleibt rätselhaft. Schwierigkeiten gehören zum Leben dazu und müssen bewältigt werden; nichts kommt ohne Einsatz. Zweitens gibt es neben der chinesischen neuen »Seidenstraße« und dem »India Middle East Europe Economic Corridor« längst eine weitere, im Westen oft übersehene Route, die sich von der Ostsee bis zum Persischen Golf erstrecken werden wird. Von der Freihandelszone Anzali im Iran besteht bereits größtenteils eine Verbindung nach Russland und Zentralasien, die zu einem neuen Handelsweg werden soll – Teil eines strategischen Transportkorridors, der von der Ostsee bis zum Persischen Golf reicht. Diese Route ist weit fortgeschrittener, als es dem blinden Westen bekannt ist! Hinter dem Wunsch, eine Eisenbahnverbindung zwischen Russland und dem Iran zu errichten, stehen geopolitische Überlegungen. Sowohl Russland als auch der Iran, beide Ziele westlicher Sanktionen, streben vor allem danach, ihren Handelsverkehr aus dem Einflussbereich der USA und der Europäischen Union zu lösen und ihn nicht mehr in Dollar abzuwickeln.

Ähnliche:

  • Warten auf den Frieden: Ein Binnenvertriebener im Flüchtlingslag...
    04.01.2024

    Sehnsucht nach Normalität

    Jahresrückblick 2023. Heute: Syrien. Ein verheerendes Erdbeben und die Folgen von Krieg, Sanktionen und externer Einmischung prägen das Land
  • Partnerschaft per Handschlag: Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed ...
    13.09.2023

    Kampffeld Wirtschaftskorridor

    G20-Gipfel: Staatenkreis initiiert Konkurrenzprojekt zur Neuen Seidenstraße Chinas. BRD plant Weltbankkredite für »Entwicklungsländer«
  • Ein US-Überschallbomber vom Typ B-1B am 27. September 2014 über ...
    06.04.2016

    Gescheitertes Konzept

    Der US-amerikanische »Plan für einen neuen Nahen Osten« und die Einmischung der EU verursachten die Flucht von Millionen Menschen. Nun dient die Flüchtlingskrise als Vorwand für weitere Interventionen