Helgas Erlösung
Von Erich Hackl
Das Wort Glück kennt keine Mehrzahl. Das ist an sich kein Schaden. Aber für dieses eine Mal läge mir viel daran, den Plural verwenden zu dürfen, denn anders als mit der Aufzählung von soviel Glück, das man beim Lesen empfindet, lässt sich »Das Buch Helga« nicht würdigen. Geschrieben hat es die aus der oberösterreichischen Arbeiter- und Bauerngemeinde Sierning stammende, seit langem in Berlin lebende Schriftstellerin Christina Maria Landerl, und gewidmet hat sie es, »neben all den anderen Helgas«, ihrer Mutter, die mit fünfunddreißig Jahren an Brustkrebs gestorben ist. Damals, im September 1988, war Helgas zweites Kind, Christina Maria, noch keine neun Jahre alt.
Ein Glücksfall ist das Buch allein schon wegen der Ernsthaftigkeit, mit der die Autorin Helgas Leben in neun chronologisch angeordneten Kapiteln, und innerhalb der Kapitel in Dutzenden kurzen, oft assoziativ aneinandergereihten Prosastücken, rekonstruiert hat. Dabei geht sie anfangs weit zurück, nicht nur, um auch das Leben ihrer Großeltern Josef und Josefa, Helgas Eltern, zu erfassen, sondern weil sie mit biblischen Anklängen einen landproletarischen Stammbaum erstellt, der als Gerüst stehenbleibt, da kaum mehr als die Namen der Vorfahren auf die Gegenwart gekommen sind. »Keine erlernten Berufe, keine Errungenschaften oder Abweichungen sind von ihnen bekannt, aufgeschrieben worden oder in Erinnerung geblieben; nirgends steht, was für Menschen das waren.«
Briefe, Fotos, Schulzeugnisse, Zitate aus Liedern, die Helga gehört oder gesungen hat, ein Artikel aus der Gemeindezeitung, dazu die Erinnerungen von Helgas Kusine an die Wonnen einer geteilten Kindheit, dann die ihrer Freundinnen an die gemeinsame Schulzeit in einem katholischen Internat sowie an einer ebenfalls von Nonnen geführten Kindergärtnerinnenschule. Die Erinnerungen ihrer Mutter, die Helga um vierunddreißig Jahre überlebt hat, die spärlichen Erinnerungen ihres Mannes Karl an Helgas wiederkehrende Alpträume zur Zeit in der Internatsschule und daran, dass sie den Herbst gehasst habe, »weil sich die Natur auf das Sterben vorbereitet«, und natürlich die Erinnerungen der Autorin selbst, diejenigen, »die ich nicht mag, die ich loswerden will«, ebenso wie »die wenigen, die mich trösten, an denen ich mich festhalten will« – das ist der Stoff, der Landerl zur Verfügung steht.
Bewundernswert ist die Diskretion, mit der sie ihn veräußert, ganz so, als wollte sie nichts verschweigen und ihrer Mutter trotzdem nicht zu nahe treten, sie auf ein Bild festlegen, dem die Autorin misstraut, weil alles, was wir über einen Menschen in Erfahrung bringen, nie die ganze Wahrheit enthält, sondern notgedrungen »voller Lücken und Andeutungen« bleibt. Deshalb versagt sie sich auch Analogieschlüsse zu vergleichbaren Biographien und stellt nur hin und wieder Vermutungen darüber an, wie ihre Mutter in dieser oder jener Phase ihres Lebens empfunden, was sie mit zwölf, sechzehn oder zwanzig Jahren gedacht, ersehnt, verworfen hat. Hoch anzurechnen ist der Autorin auch der Verzicht darauf, die Spurensuche selbst, also das Zugehen auf Helgas Freundinnen oder das Befragen des Vaters, der Geschwister, anderer Verwandter zum Thema zu machen.
Auch das steigert das Glück des Lesers: Landerls klare, ungekünstelte Sprache; ihr nüchterner Duktus, der die emotionale Wirkung des Mitgeteilten verstärkt; ihre Genauigkeit, die keine Sentimentalität duldet, aber Nachsicht und Barmherzigkeit zulässt, gegenüber der von Helgas Freundinnen überlieferten Begeisterung etwa, mit der die Siebzehn- oder Achtzehnjährige im albernen Kostüm der Mädchengarde bei den Umzügen und Auftritten einer Faschingsgilde mitgemacht hat – »sie muss es niemandem erklären, auch und vor allem nicht mir«.
Auffallend ist das Fehlen von Politik. Helga hat früh geheiratet, ist jung Mutter geworden, sie hat bis zur Geburt des letzten Kindes den Pfarrkindergarten der Ortschaft geleitet. Sind diese privaten und beruflichen Eckdaten der Grund dafür, dass die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung in Helgas Lebenszeit bei ihr keinen Widerhall gefunden hat? Zu denken gibt mir eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Imas, derzufolge sich die Österreicher auch heute noch als heimatverbundene, familienorientierte und ordnungsliebende Menschen sehen. Das zeigt, wie resistent die innere Geschichte eines Landes, die sich in den Bräuchen, Werten und Selbstwahrnehmungen seiner Einwohner offenbart, gegenüber äußeren Veränderungen ist. Abgenommen hat seit Helgas Lebenszeit, die sich – wie auch die Herkunftsgegend – mit meiner deckt, offenbar nur die Bedeutung von Kirche und Religion, und es spricht für Christina Maria Landerl, dass sie die Gläubigkeit ihrer Mutter samt den damit verbundenen Riten ohne Wenn und Aber akzeptiert. Sie in Frage zu stellen, das hätte bedeutet, sich über sie zu erheben.
Man kommt nicht umhin, diese behutsame Annäherung an eine für immer und seit langem Abwesende nicht nur der Autorin, sondern als Verdienst auch ihrer Protagonistin anzurechnen, die Landerl im allerletzten Kapitel, »Helgas Rückkehr«, wie selbstverständlich zum Leben erweckt, am 14. Oktober 2023, ihrem siebzigsten Geburtstag, den sie gemeinsam mit ihrem Mann, ihren drei Kindern, aber auch den Enkelkindern, die lange nach ihrem Tod geboren wurden, begeht. Landerl nennt die Geschenke, die ihre Mutter zu diesem Anlass bekommt, sie beschreibt die Stube, den Tisch, an dem alle sitzen, die Fotos von der Feier mit Helgas Freundinnen eine Woche zuvor, und sie schließt mit einem Lied von Leonard Cohen, dessen Refrain ihrem Verlangen nach alle gemeinsam gesungen haben: »Passing through«.
Nach 140 Seiten ist Schluss. Leider, denn man hätte in diesem Buch, das – nach einem Lieblingswort der halbwüchsigen Helga – wirklich »einmalig« ist, noch stundenlang weiterlesen mögen. Wegen des Glücksgefühls, das nicht zuletzt der Ahnung geschuldet ist, dass auch so ein skandalös kurzes Leben, wie es Helga beschert war, ein erfülltes Leben sein kann. Das Leben einer Frau jedenfalls, die im Buch der Tochter ihre Erlösung findet.
Christina Maria Landerl: Das Buch Helga. Müry-Salzmann-Verlag, Salzburg 2025, 143 Seiten, 22 Euro
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