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Aus: Ausgabe vom 16.08.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Erlösendes Nichts

Eskapismus und Katastrophe in der marokkanischen Partywüste: »Sirāt« von Óliver Laxe
Von Holger Römers
Nomadenleben: Alles, was man braucht, in Bus und Lkw
Haben wir uns in »Zabriskie Point« verirrt?

In einer Nachrichtensendung, die irgendwann in »Sirāt« aus einem Autoradio erklingt, ist von Explosionen in etlichen Städten und Angriffen an mehreren Fronten die Rede. »Seit der Nacht herrscht Krieg.« Dabei bleibt unklar, welches Land gemeint ist, in dessen Osten wie Westen Chaos herrsche und Zivilisten Richtung Grenze strömen. Später vermeldet derselbe französischsprachige Sender, dass der Konflikt sich ausgedehnt habe: »Nationen schließen sich fast automatisch einer Seite an.« Ob es in dieser Krise noch Hoffnung gebe, fragt der Moderator einen Interviewpartner, der als Sonderbeauftragter des NATO-Generalsekretärs vorgestellt wird. Doch bevor »Herr Schulz« zu Wort kommt, schaltet Josh (Joshua L. Henderson), eine der Hauptfiguren dieses Spielfilms, das Radio bezeichnenderweise ab.

Regisseur Óliver Laxe, der mit Santiago Fillol auch das Drehbuch zu seinem vierten Spielfilm verfasst hat, stellt in dessen Verlauf nicht klar, ob tatsächlich der Dritte Weltkrieg ausgebrochen ist, wie ein weiterer Protagonist, Bigui (Richard Ballamy), an anderer Stelle räsoniert. Allerdings ist offenkundig, dass die Weltflucht, der sich neben Josh und Bigui auch Jade (Jade Oukid), Stef (Stefania Gadda) und Tonin (Tonin Janvier) hingeben, vor dem Hintergrund globaler Endzeitstimmung zu betrachten ist. Das Quintett reist mit Bus und Lkw durch die marokkanische Wüste, um an einem Rave nach dem anderen teilzunehmen. Dieser Eskapismus lässt sich, wenn Boris Vians »Le déserteur« angestimmt wird, womöglich gar politisch – als sympathische Fahnenflucht – deuten. Jedenfalls erscheint der Hedonismus, der sich in regelmäßigem Tanz und Drogenkonsum äußert, durch die Spuren relativiert, die das unstete Leben in den Körpern dieser europäischstämmigen Nomaden (und ihrer Laiendarsteller) hinterlassen hat. Neben tiefen Falten sind das auch abgetrennte Gliedmaßen: So nutzt Tonin seinen Beinstumpf und seine altmodische Prothese für ein improvisiertes Puppentheater, wenn er den wehrkraftzersetzenden Chanson von 1954 vorträgt.

Allerdings lässt der 1982 in Paris geborene Filmemacher, der zumindest zeitweise in Tanger gelebt hat, auch sehr eindrücklich die sinnliche Anziehungskraft zur Geltung kommen, die von den informellen Partys unter freiem Himmel ausgeht: Die wortlose Anfangssequenz führt uns den Aufbau eines gewaltigen Soundsystems vor Augen, dessen symmetrische Lautsprecherfront in einer Panoramaaufnahme so majestätisch aussieht wie die umgebende Felswüste. Daraufhin kann die Musik von Kanding Ray alias David Letellier in den (denkbar unglamourösen) Tanzszenen ebenso hypnotisch wirken wie bei der späteren – nunmehr weniger beatlastigen, sondern zunehmend atmosphärischen – Untermalung der Weiterfahrt, die angeblich zum nächsten Rave in die Nähe Mauretaniens führt. Vorübergehend erklingt aus einem kleinen TV-Gerät, das an einem informellen Benzinumschlagplatz steht, aber auch der Gebetsruf eines Muezzins. Er begleitet die Pilgerscharen, die auf dem Bildschirm bei der Umrundung der Kaaba zu sehen sind, und setzt sich bezeichnenderweise fort, während die nächsten Bilder auf der Kinoleinwand schon die Weiterreise der Hauptfiguren andeuten – und diese mithin als Pilgerer eigener Art ausweisen.

Im Gegensatz dazu verfolgt Luis (Sergi López; der einzige Schauspielprofi) ein vergleichsweise profanes Ziel, wenn er sich mit seinem kleinen Sohn Esteban (Bruno Núñez) dem Quintett anschließt: Er sucht seine erwachsene Tochter, die vor Monaten verschwunden ist. Dabei gerät dieser Mann sehr unfreiwillig ins Zentrum jener spirituellen Wandlung, auf die die Handlung suggestiv zusteuert. Während vorher Assoziationen an »Mad Max« (George Miller, 1979) oder »Zabriskie Point« (Michelangelo Antonioni, 1970) nahelagen, lässt der letzte Akt an »A Touch of Zen« (1971) denken. Kameramann Mauro Herce zaubert nämlich eine Version jener Sonnenmystik aufs 16mm-Filmmaterial, die einst auch dem Protagonisten von King Hus Martial-Arts-Epos – als alle Schlachten geschlagen waren und der Verstand verloren – ein erlösendes Nichts verhieß.

»Sirāt«, Regie: Óliver Laxe, Frankreich/Spanien 2025, 115 min., bereits angelaufen

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