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Aus: Ausgabe vom 08.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Fotografie

Die schwierigste Zeit

Mehmet Emirs beeindruckendes Langzeitprojekt über das kurdisch-alevitische Dorf Zımeq
Von Emre Şahin
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Mensch, Tier, Maschine: Landarbeit in Zımeq

»Was man als Migrant in Österreich macht, das kommt in Deutschland gar nicht an«, sagt Mehmet Emir, und so ganz Unrecht hat er nicht. In deutschen Medien liest man, wenn, dann von Korruption und/oder der FPÖ, und viele glauben immer noch, Red Bull Salzburg sei seit Jahren ununterbrochen Fußballmeister. Zeit für Updates. Mehmet Emir, der unter anderem als Musiker und als Schauspieler tätig war und heute als Digitalisierungsexperte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften arbeitet, hat Anfang des Jahres ein Fotoband über sein Heimatdorf veröffentlicht. »Fotografien aus Zımeq. Mein kurdisches Dorf in Dersim. 1983–2019«, erschienen im Verlag Bibliothek der Provinz, bietet auf 368 Seiten einen Einblick in das kurdisch-alevitische Leben auf dem Land. Knapp 40 Jahre lang hat Emir sein im Norden Kurdistans bzw. im Osten Anatoliens gelegenes Dorf fotografiert.

Entstanden ist diese einzigartige Langzeitdokumentation aus Sehnsucht. Denn Mehmet Emir, geboren 1964, verlässt sein Dorf mit 16, um in Österreich Fußballer zu werden. Er folgt seinem Vater, der in Wien als sogenannter Gastarbeiter schuftet und seiner Familie im Dorf mittels Fotos das Leben in Österreich als ein Paradies verkauft, was es nicht ist. Auf den Bildern, die er den Verwandten schickt und die im Buch ebenfalls zu finden sind, sind ausschließlich schöne Kulissen zu sehen, wie Paläste und Rosengärten. Dass sie wenig mit der Alltagsrealität zu tun hatten, lernte Mehmet Emir schnell. Angekommen, musste er ebenfalls in die Fabrik und lebte mit seinem Vater fortan in einem Barackenzimmer. Zum Fotografieren kommt er, weil sein Vater Apparate ersteigern ließ, um sie in der Türkei weiterzuverkaufen.

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Vor den Bergen Dersims

Mehmet Emir nimmt die Leser mit auf eine Reise in sein Dorf und durch die Jahrzehnte voller Veränderungen. Vor jedem Kapitel steht eine Einführung in das jeweilige Thema. Da geht es etwa um die Sozialgeschichte des Ortes, um die Arbeitswelt, die Almzeit und die Hochzeiten (»Anzeigen bei der Polizei wegen Lärmbelästigung gab es nie«). Oder um die Überlebenden des 1938 durch die Türkei verübten Genozids in der kurdisch-armenischen Region. Emirs Großmutter ist eine von ihnen. Der Völkermord ist das kollektive Trauma der Dersimer. Auf den Porträtfotos ist den Älteren die Erschöpfung vom Leben ins Gesicht geschrieben.

Zımeq ist ein Dorf von Überlebenden, ein Dorf, das sich der Vernichtungspolitik der türkischen Regierung gegen alles Nichttürkische widersetzt hat. Die Fotos Mehmet Emirs zeugen davon. Eine besondere Stärke des Buches ist es, dass ausführlich über die armenische Minderheit des Dorfes berichtet wird. Zugleich korrigiert Emir das in Dersim herrschende Selbstbild, wonach die kurdischen Aleviten den Armeniern, die den jungtürkischen Genozid von 1915 überlebt hatten, selbstlos Schutz geboten und sie immer gut behandelt hätten. Er lässt die Armenier zu Wort kommen.

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Eine Dorfjugend in Zımeq

Die Provinz erfährt während der Jahrzehnte einen Umbruch: Emir begann kurz nach dem Militärputsch 1980 zu fotografieren. Lange bevor es die kurdische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gab, kämpften in den Bergen Dersims bereits maoistische Guerillagruppen gegen die türkische Armee. 1984 rief die PKK zu den Waffen, anschließend wurden unzählige Dörfer in Dersim durch die türkische Armee geräumt und verbrannt. Doch Zımeq überstand auch diese Zeit. Fotos von Guerillakämpfern oder dergleichen gibt es nicht, was dem Buch sogar gut tut. Im Mittelpunkt stehen hier die Menschen, ihr Alltag und das Dorf. Keine politische oder gar religiöse Symbolik, mit der die Region nicht selten exotisiert wird. Gefragt, wieso er die revolutionären Bewegungen ausgespart hat, sagt Emir: »Ich habe auch Fotos aus den 90er Jahren, das waren die schwierigsten Zeiten, ich bin häufig angehalten worden. Da meine Familie aber dort lebte, ich noch öfters hin musste – na ja, da geht es sehr schnell, dass man festgenommen wird.«

Die Berge des Dorfes wurden zum militärischen Sperrgebiet. Ähnlich wie die Provinz Dersim (»Tuneeli«) erhielt auch Zımeq einen türkischen Namen, um das kulturelle Gedächtnis der Bewohner auszulöschen. Offiziell heißt das Dorf heute Çığırlı. Mehmet Emir hat mit seinem Fotoband aber dem Dorf Zımeq ein Denkmal gesetzt.

Mehmet Emir: Fotografien aus Zımeq. Mein kurdisches Dorf in Dersim. 1983–2019. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2025, 368 Seiten, 38 Euro

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