Raimund rennt
Von Marc Püschel
An einem gewissen Punkt wird Ruhm zum Selbstläufer. Wer sich als Autor einen Namen gemacht hat, kann sicher sein, fortan jeden seiner Texte gedruckt zu sehen. Bei Neuveröffentlichungen ist dann Skepsis angebracht, besonders, wenn es sich um nachgelassene Schriften handelt, die in einem anderen Genre angesiedelt sind als dasjenige, wodurch der Autor bekannt wurde. Gleiche Vorbehalte könnte man gegen »Abschied« hegen, ein literarisches Frühwerk von Sebastian Haffner, das nun erstmals bei Hanser verlegt wurde. Andererseits: Haffner konnte erzählen. Individuelle Charaktere in ansprechendem Stil darstellen zu können, ist auch »Markenzeichen« seiner zeitgeschichtlichen Werke. Der Weg zur Literatur ist nicht weit.
Der Roman spielt in Paris im Februar 1931. Raimund besucht seine Geliebte Teddy, die zum Studium an die Sorbonne gegangen ist und sich in der Weltstadt festgelebt hat. Die Erzählung steigt am letzten Tag des zweiwöchigen Aufenthalts Raimunds ein. Noch am Abend zuvor hatte er sich mit Teddy verkracht, nun gilt es, den verbliebenen Tag zu nutzen – ohne dass Zeit bliebe, sich auszusprechen oder den Beziehungsstatus, der zwischen Freund- und Liebschaft changiert, klären zu können. Abends um zehn Uhr muss Raimund den Zug zurück nach Berlin nehmen, wo er als angehender Jurist am Landgericht beschäftigt ist. In den Stunden bis zum titelgebenden Abschied hetzen die beiden durch Paris, durch den Louvre, zum Eiffelturm, unaufhörlich Gitanes rouges rauchend. Andere Verehrer, von denen Teddy nicht wenige hat, mischen sich kurzzeitig in die Unternehmungen und verabschieden sich wieder. Unaufhaltsam rückt das Ende näher: »Plötzlich schrumpfte der Tag gewaltig zusammen.«
In der Presse stieß die Veröffentlichung aus dem Nachlass auf einhellige Begeisterung. Ein Rezensent sprach von einem »Meisterwerk«, aber das ist etwas hoch gegriffen. Wer – vielleicht etwas pedantisch – genau liest, dem fallen Anzeichen dafür auf, dass hier kein »fertiger« Romancier am Werk war. Der Satzbau wirkt mitunter etwas ungelenk, etwa wenn Ereignisketten durch allzu viele »und« in einen Satz gebunden werden (was in besseren Momenten aber zugleich den Eindruck von Atemlosigkeit erweckt). Manche Formulierungen wollen poetisch wirken, schaffen aber eher schiefe Sprachbilder: Er mordete ihren Schlaf; ihre Stimme lächelte; er warf die Asche in den Aschenbecher usw.
Doch das sind Kleinigkeiten, die kaum störend ins Gewicht fallen. Insbesondere das Hauptmotiv, die Zeitnot, kommt auf bemerkenswerte Weise zur Geltung. Die Beschreibung, wie alles drängt, wie zuvor Unausgesprochenes zwischenmenschliche Spannungen hervorbrechen lässt, die aufgrund der Eile gleich wieder zugedeckt werden, gelingt hervorragend. Die Dialoge wirken natürlich und beweisen Haffners feines Gespür für soziale Situationen, etwa wenn Teddy mit ihren drei Verehrern Raimund, Franz sowie Herrn Horrwitz in ein chinesisches Restaurant geht und im Gespräch die Eifersüchteleien, die verdeckten Spitzen der Herren gegeneinander zum Ausdruck kommen.
Das sich hier andeutende große literarische Talent Haffners ist um so beeindruckender, als er den Roman im Alter von 24 Jahren schrieb. Zu dem Zeitpunkt, im Herbst 1932, hatte der im Dezember 1907 als Raimund Pretzel Geborene sein Pseudonym noch nicht. Wie der Protagonist seines Romans stand Pretzel Anfang der 30er Jahre am Beginn einer juristischen Karriere, die er – abgestoßen von der Naziherrschaft – jedoch nicht fortsetzte, sondern sich bis zu seiner Emigration nach Großbritannien 1938 mit unpolitischen Feuilletontexten als Journalist verdingte. Auch die Geliebte hat ein reales Vorbild, Gertrude Joseph, eine Wienerin, die es im Herbst 1930 zum Studieren in die französische Hauptstadt zog. Dort blieb Joseph, ebenso wie die fiktive Teddy, die sich von Raimund am Bahnhof in dem Wissen verabschiedet, dass sie sich nicht wiedersehen und nur noch Briefe schreiben werden.
In den meisten Besprechungen des Romans werden diese Emigration und der Abschied als Vorzeichen des heraufziehenden Unheils gewertet, eine Interpretation, die bereits in dem insgesamt gelungenen Nachwort Volker Weidermanns vorgegeben wird. Manche Dialogstellen lassen sich auch wirklich als Vorahnung lesen. So spricht die Nebenfigur Franz von einem möglichen kommenden Krieg: »Da würden wir Paris zerschießen. Das gäb ein Leben, was?« Raimund erwidert zögernd: »Na, ich hab ja kein so sehr großes Kriegsbedürfnis.«
Im Wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte muss man an dieser Stelle sicher schlucken, allerdings sollte man sich hüten, in solche, eher seltenen Passagen allzuviel hineinzulesen. In »Abschied« einen Schlüsselroman der sich dem Ende zuneigenden Zwischenkriegszeit zu sehen, überfrachtet die Erzählung mit einem Bedeutungsgehalt, den sie schlicht nicht hat. Die Atmosphäre der späten Dritten Französischen und der Weimarer Republik mag darin mitschwingen, doch Politik spielt keine Rolle. Solche Werbung über Gebühr hat der Roman ohnehin nicht nötig. Die wundervoll melancholische Liebesgeschichte steht für sich, eine echte Entdeckung.
Sebastian Haffner: Abschied. Mit einem Nachwort von Volker Weidermann. Hanser-Verlag, Berlin 2025, 192 Seiten, 24 Euro
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