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Aus: Ausgabe vom 05.08.2025, Seite 5 / Inland
Klassenkampf von oben

Ruf nach Totalsanktion

Hetze gegen vermeintliche Faulenzer und Sozialbetrüger hat wieder Hochkonjunktur. Erwerbsloseninitiative plädiert für organisierte Gegenwehr
Von Ralf Wurzbacher
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Wer tagsüber durch die Fußgängerzone stolziert, macht sich der Arbeitsverweigerung verdächtig (Düsseldorf, 10.6.2025)

Die verbalen Übergriffe gegen angebliche Arbeitsverweigerer und Leistungserschleicher gewinnen angesichts gestiegener Sozialausgaben an Schärfe. »Wer das System ausnutzt, dem muss mit klaren Sanktionen begegnet werden«, zitierten am Montag die Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschlands (RND) den parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese. Ebenfalls dem RND sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Tilman Kuban, die von der Koalition geplante »neue Grundsicherung«, dürfe es »nur noch für die geben, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind – nicht für die, die nicht arbeiten wollen«. Wie eine am Sonntag bekanntgewordene Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion ergab, lagen die Kosten für das sogenannte Bürgergeld im Vorjahr bei knapp 47 Milliarden Euro. Das waren gut vier Milliarden Euro mehr als 2023.

Wie auf Knopfdruck ließ die Neuigkeit einen Chor von Demagogen erschallen. Es sei dafür zu sorgen, dass es »kein Bürgergeld mehr gibt für all diejenigen, die aus der Ukraine gekommen sind«, erklärte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gleichentags im ZDF-»Sommerinterview«. Wer nach dem 1. April 2025 aus dem ukrainischen Kriegsgebiet nach Deutschland geflohen ist, hat schon heute offiziell nur noch Anspruch auf Unterstützung gemäß Asylbewerberleistungsgesetz. Das hatten Union und SPD per Koalitionsvertrag vereinbart. Söder will die Regelung auf sämtliche Geflüchtete, auch die der ersten Stunden ausweiten, denn »kein Land der Welt« verfahre mit diesen wie die BRD. Von da ist es nicht mehr weit zur Forderung der AfD, ausnahmslos alle Ausländer aus dem Bürgergeldbezug zu kippen. In puncto Hetzen und Kürzen wackelt die »Brandmauer« nach rechts bedenklich.

Söder zur Seite sprang am Montag Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer im ZDF-»Morgenmagazin«. Jeder kenne Menschen, die Geld bekämen, es aber nicht bräuchten, behauptete der CDU-Politiker. Das gelte in besonderer Weise für Schutzsuchende. Dass von den Ukrainerinnen und Ukrainern hierzulande nur etwa ein Drittel einer Beschäftigung nachgehen sollen, sei nicht deren Schuld, »sondern das liegt an unseren eigenen selbstgemachten Regeln«, die für alle geändert werden müssten. Richten soll es ab kommendem Jahr die »neue Grundsicherung« mit Bestimmungen, die das frühere Hartz-IV-Regime in den Schatten stellen könnten. »Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen«, heißt es dazu im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Ferner wolle man die »Karenzzeit für Vermögen abschaffen«, die Höhe des Schonvermögens an die Lebensleistung koppeln und die Bezahlkarte (statt Barleistungen) bundesweit einführen. Flankiert wird das absehbar mit einer Nullrunde für 2026, der dann zweiten in Serie.

»Während die Koalitionäre ihren Ton gegenüber Menschen im Bürgergeldbezug immer weiter verschärfen, sind die in der Sache vielfach widerlegten Vorwürfe wie Arbeitsverweigerung und Missbrauch von Sozialleistungen immer wieder dieselben«, gab gestern Heike Wagner gegenüber junge Welt zu bedenken. Sie ist politische Referentin beim »Förderverein gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit«. Auch die Ziele der Akteure veränderten sich nicht, so Wagner. »Erwerbslose, Beschäftigte und Rentner sollen gegeneinander ausgespielt werden. Dafür schürt man Angst vor sozialem Abstieg, damit die Menschen zu Zugeständnissen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen bereit sind.« Zudem lenkt die Politik von den wahren Verantwortlichkeiten ab. Tatsächlich gehen die Rekordausgaben beim Bürgergeld maßgeblich auf die wirtschaftlich verheerende Sanktionspolitik gegen Russland, die so provozierten Mondpreise bei Energie und Lebensmitteln und die wachsende Erwerbslosigkeit zurück. Gleichwohl hielt die fällige Anpassung der Regelsätze in den Jahren 2023 und 2024 nicht mit der realen Inflation mit, womit die Betroffenen seither faktisch noch schlechter dastehen als davor.

Die Leistungen des Bürgergelds lägen weit unterhalb der Armutsschwelle und müssen erhöht, statt gesenkt werden, befand Wagner. »Sanktionen schaffen keine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt, und der Ruf nach Totalsanktionierung ist verfassungswidrig.« Die Gewerkschafterin zeigt sich kämpferisch: »Wir sind konfrontiert mit einem beispiellosen Angriff auf den Sozialstaat auf Kosten von Erwerbslosen, Beschäftigten und Rentnern, während gleichzeitig Unsummen in die Militarisierung gesteckt werden. Wir brauchen eine organisierte Gegenwehr.«

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