Gegründet 1947 Mittwoch, 23. Juli 2025, Nr. 168
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 23.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Das Unsagbare

Thor Kleins und Lena Vurmas Film »Leonora im Morgenlicht«
Von Wolfgang Nierlin
Leonora im Morgenlicht #4ёMirjam Kluka_Dragonfly films_Alamode
Lange Einstellungen, existentielle Fragen

Ein rotes Auto schlängelt sich auf Serpentinen durch eine bewaldete Berglandschaft. Die surrealistische Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington (1917–2011) ist zusammen mit ihrem Mann Emérico »Chiki« Weisz, einem ungarischen Fotografen, auf dem Weg zum Skulpturengarten »Las Pozas«. Es ist ein »Garten Eden des Gedeihens und Wachsens« des britischen Kunstsammlers und Multimillionärs Edward James im mexikanischen Regenwald. Hier soll die sichtlich angespannte Künstlerin innere Ruhe finden. Denn ihre psychischen Leiden haben sie auf den berühmten schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn geführt. In der Begegnung mit der mexikanischen Volkskultur wird das Bewusstsein des Todes zum Leitmotiv ihres Seelenlebens.

In Thor Kleins und Lena Vurmas sehr konzentriert gearbeitetem Film »Leonora im Morgenlicht«, der auf dem Roman »Frau des Windes« von Elena Poniatowska basiert, bilden die Ereignisse des Jahres 1951 den Rahmen. Auf wenige Lebensabschnitte verdichtet, die jeweils zeitlich datiert und räumlich verortet werden, erzählen die beiden Filmemacher kein konventionelles Biopic. Vielmehr folgen sie auf recht undramatische Weise dem Motiv einer an sich und an der Welt leidenden Künstlerin, die durch die schöpferische Arbeit auf den Weg zur inneren Heilung findet. Dabei blendet der Film ihr Kunstschaffen fast vollständig aus, um statt dessen in Carringtons Herkunft aus einem wohlhabenden, zugleich einengenden Elternhaus sowie in ihrer Begegnung mit Vertretern des französischen Surrealismus nach den Wurzeln ihrer Leiden und ihrer Kunst zu forschen. Oft in langen Einstellungen inszeniert, thematisiert er vor allem existentielle Fragen.

Einige Jahre früher sagt Max Ernst (Alexander Scheer) zu der angehenden Künstlerin, dass schmerzhafte Erfahrungen der Inspiration dienen. 1938 ist die junge Leonora (Olivia Vinall) die Geliebte des verheirateten Malers. Noch sind die Bilder in ihr versteckt. Aber durch die Freiheit der Liebe, die sie kurz vor dem Krieg in einem Landhaus von Saint-Martin-d’Ardèche geradezu symbiotisch erlebt, finden ihre seit der Kindheit verschatteten Gefühle immer drängender zum Ausdruck. Als der deutschstämmige Ernst mit Kriegsbeginn als »feindlicher Ausländer« verhaftet wird, stürzt Carrington in eine tiefe Krise. In Mexiko sind ihre seelischen Kämpfe zwar längst nicht ausgefochten, doch ihre ebenso kraftvolle wie mysteriöse Kunst wird ihr Medium, um das Unsagbare auszudrücken und sich dabei selbst zu begegnen.

»Leonora im Morgenlicht«, Regie: Thor Klein und Lena Vurma, BRD/Mexiko (u. a.) 2025, 103 Min., bereits angelaufen

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Leonora Carrington im Jahr 2000 in ihrem Atelier. In ihrem Haus ...
    07.04.2017

    Nicht zu bändigen

    Vor 100 Jahren wurde die surrealistische Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington (1917–2011) geboren
  • Tina Modotti
    17.10.2014

    Aufregung um Tina Modotti

    In St. Gallen (Schweiz) wird eine Ausstellung zu Leben und Werk der Fotografin und Revolutionärin gezeigt. Plakatmotiv sorgte für Sexismusdebatte
  • Überall leuchten Blumen
    12.07.2014

    In allen Farben

    Vor 60 Jahren starb die Malerin Frida Kahlo. Ein Besuch in ihrem Wohnhaus in Mexiko-Stadt

Regio:

Mehr aus: Feuilleton

                                                                             Beilage »Unser Amerika«