Das Unsagbare
Von Wolfgang Nierlin
Ein rotes Auto schlängelt sich auf Serpentinen durch eine bewaldete Berglandschaft. Die surrealistische Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington (1917–2011) ist zusammen mit ihrem Mann Emérico »Chiki« Weisz, einem ungarischen Fotografen, auf dem Weg zum Skulpturengarten »Las Pozas«. Es ist ein »Garten Eden des Gedeihens und Wachsens« des britischen Kunstsammlers und Multimillionärs Edward James im mexikanischen Regenwald. Hier soll die sichtlich angespannte Künstlerin innere Ruhe finden. Denn ihre psychischen Leiden haben sie auf den berühmten schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn geführt. In der Begegnung mit der mexikanischen Volkskultur wird das Bewusstsein des Todes zum Leitmotiv ihres Seelenlebens.
In Thor Kleins und Lena Vurmas sehr konzentriert gearbeitetem Film »Leonora im Morgenlicht«, der auf dem Roman »Frau des Windes« von Elena Poniatowska basiert, bilden die Ereignisse des Jahres 1951 den Rahmen. Auf wenige Lebensabschnitte verdichtet, die jeweils zeitlich datiert und räumlich verortet werden, erzählen die beiden Filmemacher kein konventionelles Biopic. Vielmehr folgen sie auf recht undramatische Weise dem Motiv einer an sich und an der Welt leidenden Künstlerin, die durch die schöpferische Arbeit auf den Weg zur inneren Heilung findet. Dabei blendet der Film ihr Kunstschaffen fast vollständig aus, um statt dessen in Carringtons Herkunft aus einem wohlhabenden, zugleich einengenden Elternhaus sowie in ihrer Begegnung mit Vertretern des französischen Surrealismus nach den Wurzeln ihrer Leiden und ihrer Kunst zu forschen. Oft in langen Einstellungen inszeniert, thematisiert er vor allem existentielle Fragen.
Einige Jahre früher sagt Max Ernst (Alexander Scheer) zu der angehenden Künstlerin, dass schmerzhafte Erfahrungen der Inspiration dienen. 1938 ist die junge Leonora (Olivia Vinall) die Geliebte des verheirateten Malers. Noch sind die Bilder in ihr versteckt. Aber durch die Freiheit der Liebe, die sie kurz vor dem Krieg in einem Landhaus von Saint-Martin-d’Ardèche geradezu symbiotisch erlebt, finden ihre seit der Kindheit verschatteten Gefühle immer drängender zum Ausdruck. Als der deutschstämmige Ernst mit Kriegsbeginn als »feindlicher Ausländer« verhaftet wird, stürzt Carrington in eine tiefe Krise. In Mexiko sind ihre seelischen Kämpfe zwar längst nicht ausgefochten, doch ihre ebenso kraftvolle wie mysteriöse Kunst wird ihr Medium, um das Unsagbare auszudrücken und sich dabei selbst zu begegnen.
»Leonora im Morgenlicht«, Regie: Thor Klein und Lena Vurma, BRD/Mexiko (u. a.) 2025, 103 Min., bereits angelaufen
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