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Aus: Ausgabe vom 23.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Herr, erbarme dich!

Aufgepasst, Kinder: Die Sparks und ihr verrücktes neues Album »Mad!«
Von Eileen Heerdegen
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»Save us, dear Lord, from prophets of fear and doom« – Sparks

Lange bevor der erschlaffende Körper multimorbid wird, kann der junge Mensch multitaskingmäßig Erstaunliches leisten. Zum Beispiel gleichzeitig lesen und Musik hören oder – Freizeit 2.0 – mit dem E-Scooter auf dem Gehweg rasant für eine Verjüngung der Umwelt sorgen (weil die Rentner lieber gleich zuhause bleiben) und Musik hören. Und diejenigen, die sich dabei nicht mit dichtschließenden Riesenkopfhörern komplett aus dieser Welt zurückziehen, sondern selbstbewusst mit Bluetooth-Brüllwürfeln, den Temu-Wiedergängern der lässig auf der Schulter getragenen Ghettoblaster, ihren zweifelhaften Musikgeschmack präsentieren, beweisen, dass wir in den letzten 50 Jahren nicht nur fast alle Insektenarten ausgerottet haben, sondern dass auch der aktuelle musikalische Mainstream von diesem fatalen Vernichtungswillen geprägt ist.

Aber es gibt auch gute Nachrichten. Liebe Kinder, wenn ihr es satt habt, das 180ste Sampling von irgendwas Langweiligem aus den 80ern oder 90ern zu hören, ihr aber verständlicherweise nicht das Gleiche gut finden wollt wie eure Alten, es gibt doch noch die Großelterngeneration! Geil, schräg, Sparks. Nie war Retro so mega-nice.

Und nie waren die Sparks so wertvoll wie heute. Den »Madman Across the Water« hat Elton John mit seherischen Fähigkeiten schon 1971 prognostiziert, die Sparks sagen einfach »Mad!« statt »MAGA«, und auch wenn sie sich nicht dezidiert politisch äußern, ist ihre bloße Existenz die Antithese zu allem, was die USA (heute) dumm und böse machen.

Die größten Erfolge hat das außergewöhnliche Brüderpaar dann auch in Europa, speziell in Großbritannien, gehabt – seit dem meisterhaften »FFS«, einer gelungenen Kollaboration mit meinen Lieblingsschotten von Franz Ferdinand, hat jedes ihrer Alben die britischen Top ten geknackt, das aktuelle »Mad!« kam sogar bis aufs Silbertreppchen. Instinktiv würde man die beiden auch eher in ein Landhaus im Mutterland der Exzentriker verorten als ausgerechnet winkend in einem Stau auf der amerikanischen Interstate 405. Doch »I-405 Rules«, behauptet das Duo, ausgerechnet hier sei das Leben ein langer ruhiger Fluss, weder die Donau, Wolga, Seine, Themse, der Nil, der Rhein, Yangtze, Ganges noch der japanische Sumida könnten dem Highway ihr Wasser reichen. Ein sehr typisches Sparks-Werk, der Text klingt nach Körperfressern und auch musikalisch ist hier der Teufel los. Streicherchöre zitieren den Hummelflug von Nikolai Rimski-Korsakow, Anklänge an Experimentelles aus den 1920er Jahren und zum Ausgleich eine melodische Bridge wie ein Mantra: »I-405 / Flows, it’s ­alive / We take some pride / All justified / All of the rest / May stand the test / Still, none compare / None anywhere«. Möglicherweise mein Lieblingsstück auf »Mad!«, erinnert es doch stark an meinen All-time-favourite »Propaganda« (1974).

Ob Ron und Russel Mael tatsächlich Brüder sind, ein altes Ehepaar oder vielleicht Seelenverwandte, die sich immer noch siezen, auch nach mehr als 50 Jahren sind die Sparks weiterhin Garanten für ungewöhnliche, überraschende Popmusik. Sie sind dabei nicht zu ihren eigenen Abziehbildern verkommen und doch immer unverkennbar Sparks. Die starke Glam-Rock-Betonung der frühen Jahre (ich wette, dass Freddy Mercury »Bohemian Rhapsody« nur schreiben konnte, nachdem er die Sparks rauf und runter gehört hatte) ist vom ewig jungen Keyboarder und Musiktüftler Ron, der im August den 80er feiert, mit zeitgemäßen Elementen gemixt und ergänzt worden. Russels Falsettparts sind altersgemäß etwas weniger spektakulär, er klingt aber auch mit 76 Jahren noch immer wie ein zart-brüchiger Marc Bolan auf Speed.

»Do Things My Own Way«, der Opener im Präsens und nicht etwa Sinatra-Vergangenheit (die Maels werden also mindestens bis 100 weitermachen), beginnt musikalisch mit einer Erinnerung an den Vorgänger »The Girl Is Crying in Her Latte« und wandert dann über Techno und Hardrockelemente zur Synthie-Pop-Ballade »My Devotion«, die das Herz jedes Erasure-Fans höher schlagen lässt. »Got your name written on my shoe / And I’m thinkin’ of gettin’ a tattoo.«

Neben der schon erwähnten Hommage an den Highway 405 ist auch »Drowned in a Sea of Tears« ein klassischer Sparks-Song (mit leichter FFS-Note), allerdings mit eher ungewöhnlich ernstem Text. Traurig, aber entspannend nach dem fast verstörenden, bedrohlichen Warten vor dem »A Long Red Light«.

Nachdem »A Little Bit of Light Banter« als melodischer, klassischer Rausschmeißer irgendwo zwischen Britpop und schottischem Traditional ganz neue Seiten der Mael-Brothers offenbart, kommt die größte Überraschung zum Finale mit einem typischen Abba-Song, der beim Song Contest entweder den ersten oder den letzten Platz sicher hätte. »Lord have mercy / Calm angry seas / Blow gentle breezes / Toward you and me / Lord have mercy / Dry all our tears / Save us, dear Lord, from prophets of fear and doom.« Mit viel harmlos scheinendem La-la-la kriecht uns hier die Verzweiflung kalt in den Kragen.

Liebe Kinder, die Lebenszeit ist zu kurz, um sich von der KI beschallen zu lassen. Außerdem: Beim Scooterfahren lernt man nix. Also die Sparks auf die Ohren und am besten dazu lesen. Sibylle Bergs Dystopien »GRM. Brainfuck« und »RCE« sind von der Realität längst eingeholt, deshalb empfehle ich die Lieblingslektüre meines 16jährigen Ichs: »Die junge Garde« von Alexander Fadejew, ihr werdet’s vielleicht brauchen können.

Sparks: »Mad!« (Transgressive)

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