Häuserkampf und Korruption
Von Lars Lange
In den Straßen von Pokrowsk lauern russische Saboteure im Schatten zerstörter Gebäude, während ukrainische Soldaten nervös durch ihre eigene Stadt patrouillieren und dabei nicht wissen, ob der nächste Hinterhalt von Feinden oder eigenen Kameraden droht. Denn durch die verwirrende Lage in der nahezu eingeschlossenen Stadt steigt die Zahl der Eigenbeschussvorfälle. Videos zeigen bereits russische Soldaten in den südlichen Teilen der strategisch wichtigen Bergbaustadt, die systematisch Jagd auf ukrainische Fahrzeuge machen. Was sich in diesen Julitagen in der einst 60.000-Einwohner-Stadt abspielt, offenbart eine dramatische Verschlechterung der Lage für die ukrainischen Verteidiger.
Die Infiltration begann bereits am 17. Juli und dauert noch immer an. Der Grund für das Eindringen der russischen Sabotage- und Aufklärungsgruppen war simpel: Einer Brigade war die Infanterie ausgegangen, wie der gut informierte ukrainische Telegram-Kanal »Deep State« berichtete. Zusätzlich hat sich die Versorgungslage der ukrainischen Kräfte in Pokrowsk dramatisch verschlechtert. Nur noch zwei Hauptnachschubachsen sind verfügbar. Es existieren zwar mehrere Feldwege, teilweise unter Waldstreifen, was Schutz vor Luftangriffen bietet. Doch alle diese Routen liegen im Wirkbereich von russischen FPV-Drohnen, was die Versorgung extrem riskant macht.
Die russische Infiltration könnte darauf hindeuten, dass ein geordneter Rückzug ukrainischer Truppen bereits läuft. Dass einer Brigade »die Infanterie ausging«, kann für eine planmäßige Verlegung in rückwärtige Stellungen sprechen. Denn Satellitenaufnahmen zeigen, dass westlich von Pokrowsk bereits umfangreiche Verteidigungsanlagen errichtet wurden – die sogenannte Neue-Donbass-Linie. Diese erstreckt sich von der südlich gelegenen Oblast Saporischschja bis zur Oblast Charkiw im Norden der Region. Möglicherweise hat die ukrainische Führung aus den kostspieligen Fehlern von Awdijiwka und Bachmut gelernt. Damals wurden große Truppenteile zu lange in bereits verlorenen Positionen gehalten, was zu schweren Verlusten führte.
Während in Pokrowsk um jeden Straßenzug gekämpft wird, tobt in Kiew ein anderer Kampf – einer gegen die eigenen Antikorruptionsinstitutionen. Am Montag führten Generalstaatsanwaltschaft, Sicherheitsdienst SBU und das Staatliche Ermittlungsbüro mindestens 70 Durchsuchungen in Räumlichkeiten des Nationalen Antikorruptionsbüros NABU durch. Ermittlungen wurden gegen mindestens 15 NABU-Mitarbeiter eingeleitet, wobei den meisten Vergehen bei Verkehrsunfällen vorgeworfen werden; einige Beschuldigte gerieten jedoch auch wegen angeblicher Russland-Verbindungen ins Visier. Vergangene Woche wurde der Antikorruptionsaktivist Witalij Schabunin, der freiwillig Militärdienst leistet, wegen Wehrdienstverweigerung und Betrugs angeklagt – laut seinem Team aus »politischer Rache«.
Die Botschafter der G7-Staaten in Kiew zeigten sich in einer Erklärung »sehr besorgt« und »beabsichtigen, diese Entwicklungen mit den Verantwortlichen der Regierung zu diskutieren«. Andere sehen einen koordinierten Angriff auf unabhängige Institutionen. Daria Kaleniuk von Schabunins »Anti-Corruption Research and Education Centre« warnte vor einer »Demontage der Antikorruptionsinfrastruktur« und einer »180-Grad-Wende weg von der europäischen Integration«. Auslöser der Strafverfolgung könnten NABU-Ermittlungen im Umfeld des Präsidenten sein – etwa gegen Exvizepremier Olexij Tschernischow und einen Verwandten von Timur Mindich, Mitbesitzer von Kwartal 95, der Produktionsfirma, an der auch Wolodimir Selenskij beteiligt ist.
Während an der Front gegen russische Saboteure gekämpft wird, nutzt die Regierung in Kiew den Kampf gegen die angebliche Einflussnahme Moskaus als Vorwand für die systematische Schwächung der Antikorruptionsbehörde. Ausgerechnet jene Institution, die westliche Standards garantieren sollte. Die ukrainische Journalistin Diana Panchenko verwies auf X darauf, dass NABU »von den USA eingerichtet wurde, um die Korruption in der Ukraine zu überwachen«. Aber sie sei »jetzt so dreist« geworden, »dass sie sogar diejenigen ins Visier nimmt, die US-Interessen vertreten«. Besonders brisant: Gleichzeitig soll ein Moratorium für Unternehmensaudits geplant sein – ausgerechnet während Milliarden an Rüstungsgeldern fließen. Ihre provokante Frage: »Wie glaubt ihr denn, haben sie zig Milliarden gestohlener westlicher Hilfe gewaschen? Über Briefkastenfirmen.«
Die Dimensionen geben ihrer Kritik Gewicht: Nach Berechnungen des »Kiel Institute for the World Economy« seien seit 2022 bereits über 287 Milliarden US-Dollar an westlicher Hilfe in die Ukraine geflossen – die USA allein hätten 122 Milliarden US-Dollar bereitgestellt, ebensoviel wie die EU-Staaten. Ein erheblicher Teil davon fließe in Rüstungsgeschäfte mit westlichen Herstellern. Angesichts solcher Summen überrascht es wenig, dass die Demontage der Antikorruptionsüberwachung höchste Priorität genießt. Während an der Front die Versorgungslinien zusammenbrechen, sichert die politische Führung offenbar andere ab – jene, die westliche Hilfsgelder ohne lästige Kontrollen fließen lassen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. Juli 2025 um 21:51 Uhr)Die Schlacht um Pokrowsk könnte sich als entscheidender Wendepunkt im Ukraine-Krieg erweisen. Sollte es den russischen Truppen gelingen, die Stadt einzunehmen oder zu umgehen, droht ein weiterer Vorstoß tief ins Landesinnere. Ein solcher Durchbruch könnte die ukrainischen Streitkräfte zu einem strategischen Rückzug zwingen – denn Pokrowsk stellt den letzten ernsthaft ausgebauten Verteidigungspunkt in Richtung Kiew dar. Die vielzitierte »Neue-Donbass-Linie«, welche die Verteidigung sichern soll, existiert bislang größtenteils nur auf dem Papier. Grund dafür ist die allgegenwärtige Korruption: Baumaßnahmen werden zwar offiziell angeordnet und teilweise auch finanziert, in der Realität aber oft nicht umgesetzt. Laut Aussagen des US-Außenministers Antony Blinken flossen rund 90 % der amerikanischen Ukraine-Hilfen direkt in die US-Rüstungsindustrie – sprich: das Geld bleibt größtenteils in den USA. Im Gegensatz dazu tragen die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, die Hauptlast der finanziellen Unterstützung des ukrainischen Staates selbst. Diese Mittel werden direkt an die ukrainische Regierung überwiesen – und verschwinden dort allzu häufig in undurchsichtigen und korrupten Strukturen. Gerade deshalb ist es alarmierend, dass die ukrainische Führung nun gezielt gegen die eigene Antikorruptionsbehörde NABU vorgeht – ausgerechnet jene Institution, die westliche Standards und Transparenz sichern sollte. Während an der Front Nachschubwege unter Beschuss stehen, scheint die politische Führung in Kiew vorrangig damit beschäftigt, Kontrolle und Aufsicht zu schwächen. Wie Lenin einst sagte: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Angesichts von Hunderten Milliarden westlicher Hilfsgelder sollte insbesondere Europa sehr genau hinschauen, wohin sein Geld fließt – und wie es verteilt wird.
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