Digital verzetteln
Von Oliver Rast
Loseblattsammlung, Zettelwirtschaft, Papierkrieg – damit sollte Schluss sein. Nach dem Startschuss des wichtigsten Digitalisierungsprojekts in der deutschen Gesundheitspolitik, mit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA). Im Januar begann die Testphase der ePA in Modellregionen, Ende April wurde die »Digiakte« bundesweit für alle gesetzlich Versicherten eingeführt – sofern sie nicht widersprochen haben. Und für Leistungserbringer, etwa Ärzte und Apotheker, ist die ePA ab Oktober verpflichtend.
Aber: Aktuell nutze nur ein Bruchteil der Patienten die App der jeweiligen Krankenkasse, und auch sonst drohe der ePA eine Bruchlandung, sagte der Bundesvorsitzende des Hausärzteverbandes, Markus Beier, der Rheinischen Post (Dienstagausgabe). Weil: nicht bedienerfreundlich, nicht selbsterklärend, nicht alltagstauglich.
Rund 74 Millionen sind hierzulande gesetzlich versichert. Mehr als 70 Millionen von ihnen haben seit Januar eine E-Akte von ihrer Krankenkasse bekommen. Allein bei der Techniker Krankenkasse (TK), den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) und der Barmer sind zirka 44 Millionen ePA eingerichtet worden, von denen derzeit aber nur rund 1,2 Millionen aktiv genutzt werden, berichtete dpa am Montag.
Bislang sei die ePA nicht mehr als ein digitaler Patientenordner mit Befunden, Arztbriefen und dergleichen, sagte André Byrla, Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbands Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands (Spifa), am Dienstag jW. Damit sollten unter anderem Doppeluntersuchungen vermieden werden. Wirklich praktikabel wird eine E-Akte indes erst, wenn das Arztinformationssystem (Praxisverwaltungssoftware, PVS) mit den verschiedenen ePA-Anwendungen der Kassen kompatibel ist. »Sonst kann aus einer befüllten ePA schnell so etwas wie eine digitale Aldi-Tüte mit Dokumenten werden.« Das hätte für die Gesundheitsversorgung null Wert.
Und tatsächlich, das technische Wirrwarr ist groß. In manchen Fällen ließen sich ePAs innerhalb weniger Sekunden öffnen und Dokumente rasch einstellen, »in anderen ist zum Beispiel ein gleichzeitiges Arbeiten in ePA und PVS unmöglich«, erzählt Adrian Zagler am Dienstag im jW-Gespräch. »Dazu kommen immer wieder technische Störungen, flächendeckend oder bei einzelnen Anbietern«, so der Geschäftsführer Kommunikation und Marketing beim Virchowbund, dem Verband der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Deutschlands, weiter. Und noch etwas stört Zagler. Krankenkassen hätten ihre Versicherten schlecht über die ePA informiert. Patienten wandten sich oftmals hilfesuchend an die Praxen, »was wiederum dort Ressourcen bindet, die dann für die eigentlichen Behandlungen fehlen«.
Für die Telematikinfrastruktur, also für den Datentransfer bei der ePA, ist die Gematik zuständig, die nationale Agentur für digitale Medizin. An der Gesellschaft ist das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mit 51 Prozent Mehrheitsanteilseigner. Was passiert mit den Patientendaten? Die landen im Forschungsdatenzentrum des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden. Zugriff auf den riesigen Datenpool können beispielsweise Wissenschaftseinrichtungen an Universitäten und nicht zuletzt Forschungsabteilungen von Pharmakonzernen erhalten.
Bloß, was ist, wenn Patienten der E-Akte widersprochen haben bzw. widersprechen werden? Die offizielle Version lautet: Haben Patienten im Rahmen der Einführung von der sechswöchigen Widerspruchsfrist Gebrauch gemacht, wurde eine ePA seitens der Krankenkasse gar nicht erst angelegt. »Versicherte haben zudem grundsätzlich und jederzeit die Möglichkeit, ihre ePA komplett zu schließen, also löschen zu lassen«, betonte eine Sprecherin des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) am Dienstag gegenüber jW. Von der Löschung seien dann alle Akteninhalte betroffen.
Zweifel bleiben, bei Patientenschützern, bei Datenschützern. Denn Bigpharma wird im Milliardenbusiness um Versichertendaten Schlupflöcher suchen – und finden. Bis dahin heißt es aber erst mal: digital verzetteln.
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