Gretchenfrage Gewalt
Von Stefan Ripplinger
Ende Juli wäre der Psychiater, Theoretiker und Revolutionär Frantz Fanon hundert geworden. Von jeher ist er ein bevorzugtes Ziel der Attacken von Rechten. Bereits im März 1962, kurz nach seinem Tod, nannte die monarchistische Zeitung Nation française »Die Verdammten dieser Erde«, Fanons bekanntestes Buch, das »Mein Kampf« der Antikolonialen.
Das kommt einem bekannt vor. Denn heute hört man solche und ähnliche Verleumdungen von allen Seiten, und sie beziehen sich längst nicht mehr auf Fanon allein, sondern auf alle Anti- oder Postkolonialen. Auch darin liegt Fanons Ruhm. »Ich möchte den Segen, der im Fluch der Feinde liegt, nicht entbehren«, notierte Friedrich Hebbel. Groß machen uns immer nur unsere Gegner. Schwerer zu ertragen sind die Einlassungen der Freundinnen und Freunde, vor allem der linksliberalen. Drei Beispiele.
Alice Cherki, eine Mitarbeiterin von Fanon in der Psychiatrie des algerischen Blida-Joinville, schrieb vor fast einem Vierteljahrhundert in ihrem Vorwort zur französischen Neuauflage von Fanons »Die Verdammten« (2002), Jean-Paul Sartre rechtfertige die Gewalt, die Fanon bloß analysiere. Ja, Sartres eigenes Vorwort zu den »Verdammten« nehme streckenweise den Charakter einer »Aufstachelung zum Verbrechen« an. Verhaftet Sartre!
Die deutsche Übersetzung der Biographie Fanons, die Cherki damals vorgelegt hat, ist gerade in neuer Aufmachung erschienen. Zwar nennt Cherki darin Sartres Vorwort »schön und heftig«, aber wiederholt über Seiten hinweg ihre Behauptung, Fanon habe, im Gegensatz zu Sartre, Gewalt und Gegengewalt bloß »analysiert«. Das lässt sich allein schon mit Fanons Vortrag »Warum wir Gewalt anwenden« (Accra, April 1960) widerlegen.
Fanon war ein Revolutionär, er wollte das Kolonialsystem überwinden. Er plädierte für Gewalt nicht etwa, weil er barbarische Lust an ihr empfunden hätte, sondern weil sie ihm in einer Situation, in der der General de Gaulle erklärte, man müsse »das algerische Volk brechen«, als unumgänglich erschien. »Nein, die Gewalt des algerischen Volkes beruht weder auf einem Hass auf den Frieden noch auf einer Verweigerung von menschlicher Bindung, und sie beruht auch nicht auf der Überzeugung, allein der Krieg könne dem Kolonialregime in Algerien ein Ende bereiten«, heißt es in Fanons Vortrag, doch strebten die Algerier »die einzige Lösung an, die man ihnen gelassen hat«.
Dass, wie Cherki aus ihrer Begegnung mit Fanon berichtet, der Mann ein zwar mitunter hitziger, aber kultivierter Herr gewesen sei, der zweimal am Tag sein Hemd wechselte und Schnupftücher mit eingesticktem Monogramm benutzte, steht mit seiner revolutionären Überzeugung durchaus nicht in Widerspruch. Interessant an ihren Erinnerungen ist, was sie aus den wenigen gemeinsamen Jahren in Blida berichten kann: seine Arbeitsweise, seine Freundschaften, seine Lektüren, seine Auftritte. Weil das nicht übermäßig viel ist, füllt sie die restlichen Seiten mit einer Gesamtschau auf Fanons Denken, die recht fad ausfällt.
Etliches mehr zum Leben steuert Adam Shatz in einer sorgfältig recherchierten Biographie bei. Intellektuell wirkt Shatz, dem wir brillante Aufsätze, unter anderem in der London Review of Books, verdanken, in diesem Buch eher unauffällig. Es scheint sogar, der radikale Fanon treibe ihn vor Schreck in die konservative Ecke. Beispielsweise gehört zu den interessantesten Behauptungen Fanons die, dass der Ödipuskomplex auf den französischen Antillen, woher er stammte, kaum verbreitet sei. Er begründet das – wie übrigens gut 30 Jahre später Fredric Jameson in seinem Vortrag über »Third-World Literature« (1986) – damit, dass die »Soziogenese«, also das von der Gesellschaft Verursachte, in Kolonialländern viel stärker ins Gewicht falle als im bürgerlichen Europa. Es gibt in solchen Ländern gar kein vom Öffentlichen getrenntes Privatleben, alles ist immer schon politisch. Shatz aber will in dieser Abweichung, wenn nicht Abwehr von Papa Freud »etwas Unreifes«, gar »partielle Blindheit« erkennen.
Shatz’ Einschätzung seines Analysanden lässt sich ohne große Übertreibung darin zusammenfassen, dass er, wie der französische Kolonialist sagt, kein »évolué«, also kein Entwickelter, sondern ein unreifer Bub gewesen sei: »Sosehr Fanon danach strebte, ein harter Kerl zu sein, blieb er doch stets ein Träumer.« Auch Shatz hat mit Sartre ein Hühnchen zu rupfen. Doch wenn er unterstellt, Sartre habe für sein Vorwort lediglich das erste Kapitel der »Verdammten« überflogen, beweist Shatz damit nur, dass er selbst dieses Vorwort nicht zu Ende gelesen haben kann, denn auf dessen letzter Seite bezieht sich Sartre ausdrücklich auf Fanons Schlusskapitel. Das hält wiederum Philipp Dorestal nicht davon ab, in seinem eigenen Fanon-Buch Shatz’ Fehlurteil über das »skandalöse« oder auch »berühmt-berüchtigte« Vorwort nachzuplappern. Geht es Cherki, Dorestal und Shatz wirklich um den halb vergessenen Sartre? Oder schlagen sie den Sack und meinen den Esel?
Niemand hat die kritische Auseinandersetzung mit Fanon so energisch eingefordert wie Fanon selbst. Seine Bücher bieten nicht nebenbei, sondern in der Hauptsache unbarmherzige Selbstkritik, sowohl seiner Existenz auf Martinique als auch seiner ärztlichen und politischen Tätigkeit. Gelegentlich hat er es mit der Selbstkritik sogar übertrieben. Simone de Beauvoir gestand er, er fühle sich mitschuldig an der Ermordung des kongolesischen Präsidenten Patrice Lumumba und von Abane Ramdane, eines Führers der algerischen Befreiungsfront FLN. Fanons Selbstkritik war von dem Willen getrieben, anders zu werden. Dorestal und Shatz stört an Fanon vor allem, dass er anders ist als sie.
Dorestal will darin, dass Sartre und Fanon stets von »Brüdern« und nicht auch von »Schwestern« im Kampf sprechen, eine falsch »gegenderte Solidarität« erkennen. Mit dem Philosophen Matthieu Renault unterstellt er Fanon eine »Apologie der Virilität«. Freilich wirkt es nicht sonderlich »viril«, also mackerhaft, wenn einer seine Schwächen offenbart und, wie von seinen Büchern ausführlich dokumentiert, einfühlsam mit den Schwächsten der Schwachen spricht. Das beeindruckt Dorestal wenig. Auf recht fragwürdige Weise will er sogar herleiten, Fanon müsse ein Schwulenhasser gewesen sein – was übrigens auch Shatz glaubt.
Hinter all diesen moralisierenden Kritteleien steht, wie schon bei Cherki, die Gretchenfrage: »Wie hältst du’s mit der Gewalt?« Cherki selbst beantwortet sie, indem sie Fanon ein glänzendes Führungszeugnis ausstellt, Shatz hält Fanons Befürwortung von Gewalt für »stellenweise hochproblematisch« und Dorestal flüchtet sich in die kuriose Formulierung, Gewalt könne nicht »das Mittel der Wahl zur Befreiung« sein, da ja der »Kolonialismus zumindest formal nicht mehr existiert«. Wer sagt’s den Palästinensern?
Wer sich nicht mehr befreien muss, kann schlecht von denen, die es noch müssen, verlangen, einfach stillzuhalten. Schon Sartre wies darauf hin, dass Fanon nicht für Europäer schrieb, sondern für solche, die keine Europäer mehr sein wollen. Cherki, Dorestal und Shatz stehen in der Tradition jener europäischen Humanistinnen und Humanisten, die andern das Gute wünschen, das sie selbst bereits genießen. Aber beim frommen Wunsch soll es möglichst bleiben. Zwischen Fanon und ihnen liegt nicht nur über ein halbes Jahrhundert grausiger Geschichte, sondern auch eine Klassenschranke, sofern man akzeptiert, dass ein Bourgeois von Martinique in Europa bloß ein Proletarier sein kann.
Das heißt nicht, dass aus diesen Büchern nichts zu lernen wäre. Alice Cherki kann aus eigener Anschauung biografische Details liefern, Adam Shatz trägt so gut wie alles zusammen, was bislang über Fanon bekannt ist. Und wem das zu viel ist, der findet bei Philipp Dorestal eine bündige, wenn auch von den Werten der Gegenwart geblendete Einführung. Dass keine oder keiner der drei so originell, anregend und komisch wie Frantz Fanon selbst ist, war ohnehin nicht anders zu erwarten.
Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Porträt. Vorwort von Natasha A. und Zaphena Kelly. Aus dem Französischen von Andreas Löhrer. Edition Nautilus, Hamburg 2024, 400 Seiten, 26 Euro
Philipp Dorestal: Denker der Dekolonisation. Zur Aktualität von Frantz Fanon. Dietz-Verlag, Berlin 2025, 184 Seiten, 18 Euro
Adam Shatz: Arzt, Rebell, Vordenker. Die vielen Leben des Frantz Fanon. Aus dem Englischen von Marlene Fleißig und Franka Reinhart. Propyläen-Verlag, Berlin 2025, 640 Seiten, 38 Euro
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