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Aus: Ausgabe vom 21.06.2025, Seite 12 / Thema
Philosophie

Durch das Nadelöhr

Vor 120 Jahren wurde Jean-Paul Sartre geboren. Eine Lektüre seines philosophischen Hauptwerks
Von Stefan Ripplinger
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Wer nicht ausbricht, ist nicht. Jean-Paul Sartre in Frankfurt am Main (24.6.1950)

Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre (1905–1980) war ein Bourgeois, der so dachte wie wir Proletarier. Dieses Kunststück gelang ihm ausgerechnet dank seiner Abweichung vom traditionellen Marxismus. Obwohl durch und durch dialektischer Materialist, unterschied er sich doch von der marxistischen Orthodoxie in einem einzigen, jedoch entscheidenden Punkt: in der Perspektive. Was die Orthodoxen von oben sahen, sah er von unten.

Das wichtigste Wort in seinem selten gelesenen Hauptwerk, der »Kritik der dialektischen Vernunft« (1960), ist »dépassement«, es bedeutet soviel wie »Überwindung«. Weil den Proletariern nichts in den Schoß fällt und sie sich durch alle Schwierigkeiten erst hindurchwinden müssen, ist »dépassement« ihr ureigenes Wort. In ihm steckt auch die hegelianische »Aufhebung«. Das Subjekt (nicht nur das proletarische) hebt mit der Gruppe die von Mangel gekennzeichnete Situation auf. Ja, indem es mit anderen diese missliche Situation aufhebt, tritt das Subjekt überhaupt erst als Subjekt hervor. »Der Mensch ist für mich Produkt der Struktur, aber nur insofern er sie überwindet«, bemerkte der Philosoph 1948 (»Jean-Paul Sartre répond à ses détracteurs«).

Leicht könnte sich die Vorstellung von einem heroischen Voluntarismus einschleichen: Das Subjekt siegt über das, was es beengt und bedrängt. Doch liegt das Überraschende am späten Sartre in seinem Nachweis, dass alle Befreiung Einschließung, alle Tätigkeit Untätigkeit nach sich zieht. Gerade indem er sich befreien will, erkennt einer oft genug, dass seine einzige Freiheit darin besteht, in die Notwendigkeit einzuwilligen. Mit einer Kapitelüberschrift aus Sartres »Saint Genet« (1952) gesagt: »Ich habe mich dazu entschlossen, das zu werden, was das Verbrechen aus mir gemacht hat.« Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist der Siedler (oder die Siedlerin).

Moral des Siedlers

Die nach Algerien geschickten »petits blancs«, die armen Weißen, sind Subjekte, die ihre Situation überwinden. Sie haben daheim kein Glück gehabt und versuchen es auf neuer Erde – zum Schaden der dort seit Jahrhunderten Ansässigen. Der blutige Konflikt mit ihnen erzeugt Rassismus. Hier zeigt sich bereits der Unterschied in der Perspektive: Im Blick von oben lässt ein imperialistischer Staat einen Schwarm rassistischer Lumpenproletarier ein lukratives Gelände besetzen. Im Blick von unten, also in dem Sartres, haben diese Leute zwar die Wahl, aber selten eine bessere Option. Sie sind keine Rassisten, sie werden es. Ihre Praxis vor Ort ist nicht amoralisch, vielmehr wird sie, besonders für ihre Nachfahren, zur verpflichtenden Moral.

Als hätte er sich in den Roman von H. G. Wells verirrt, lebt der Siedler in Algerien wie auf der »Insel des Dr. Moreau«, aus seiner Sicht (in seinem »Blick«, wie Sartre sagt) umgeben von wilden Tieren, die »zwar nach dem Bild des Menschen geschaffen, aber verkommen sind« (Bd. I, 677; Übersetzungen nach den Erstausgaben, Paris 1960, Band I und 1985, Band II). Diese wilden Tiere, die Araber, wollen, meint der Siedler, das Bild des vollkommenen Menschen, also seiner selbst, zerstören. Der Siedler war kein Rassist, als er aus dem Mutterland aufbrach, er wird einer im Kolonialland, und wenn er in die Hauptstadt zurückkehrt, ist aus seiner rassistischen Operation eine rassistische Erzählung geworden, deren Wahrheit in ihrer genauen Umkehrung besteht: Der Kolonisierte ist »der Untermensch, der ganz Mensch ist, und der Siedler ist, wie Superman, ein großer Verstümmelter«. (I, 671)

Hier stehen sich nicht einfach zwei Moralen gegenüber; Sartre ist kein Relativist. Indem der Aufständische die koloniale Situation überwindet, tut er das nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze unterdrückte Menschheit. Für ihn gilt wie für das Proletariat, dass er »zugleich Schicksal und Widerruf des Schicksals« (I, 357) ist. Er dient also einer universalistischen Moral, die ihm aber nicht als humanistischer Wert mitgegeben worden ist, sondern sich ihm unwiderstehlich aufdrängt.

Auch wenn Sartre in einer seiner bekanntesten Schriften, »Der Existentialismus ist ein Humanismus« (1945), vom Antihumanismus im Stil Martin Heideggers Abstand genommen hat, distanziert er sich zugleich scharf vom bürgerlichen Humanismus, der für ihn »abstrakte Gewalt und Regularium der Unterdrückung« ist. Der bürgerliche Humanismus »identifiziert den Bürger als Menschen gegen jene ganz andere Sorte, den Gegenmenschen, welcher der Arbeiter ist. Der Humanismus ist als Entsprechung zum Rassismus eine Praxis des Ausschlusses.« (I, 702) In dem von allen Liberalen gehassten Vorwort Sartres zu Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde« (1961) ist sogar von einem »rassistischen Humanismus« die Rede. Schon 1945 hat Sartre erklärt, das Humane folge aus der Existenz, nicht aus der Essenz, es sei Wirklichkeit, nicht Wesen. 1960 hält er daran fest, betont lediglich, dass die Existenz eine Praxis, eine Überwindung sei. Und die »Praxis« ist mehr oder weniger das, was in »Das Sein und das Nichts« (1943) das »Projekt« war.

Die Figur des Dritten

Die Überwindung ist in die Hände der sich zusammenschließenden Gruppe (»groupe en fusion«) gelegt. Wenn ein Dutzend Personen auf den Bus oder vor dem Eingang einer Bank warten, haben sie zwar ungefähr dasselbe vor, sie befinden sich sogar in einer und derselben Totalität – Verkehr von Menschen und Zirkulation von Geld –, aber sie bilden deshalb noch keine Gruppe. Diesen Zustand nennt Sartre »seriell«. Bevorzugt und unterstützt wird die Serialität von den Herrschenden, die von »jeglicher Organisation beunruhigt« (I, 623) werden.

Die Serialität erklärt viele Erscheinungen unserer spätkapitalistischen Gesellschaft. Nicht, weil sie irgendeinem »falschen Bewusstsein« anheimgefallen wären, sondern einfach infolge ihrer Atomisierung verdammen sich Ansammlungen von einzelnen zur Passivität; Sartre illustriert das sehr komisch mit US-Amerikanern, die die Radiohitparade hören und allein deshalb ein Bedürfnis nach dem aktuellen Nummer-eins-Hit entwickeln, weil es eben der aktuelle Nummer-eins-Hit ist (I, 615–623). Fredric Jameson (»Valences of the Dialectic«; 2009) nennt diese Passage die beste Medientheorie, die wir zur Zeit besitzen.

Es versteht sich, dass ein Theoretiker, dem die Revolution noch nicht zum Fremdwort geworden ist, über das Serielle hinausdenken will. Doch bleibt es im Hintergrund stets gegenwärtig, und selbst wenn sich eine Gruppe zusammengeschlossen hat, kann sie wieder in die Serialität zurücksinken und sich so auflösen.

Was Sartres Spätschriften düster wirken lässt, ist der Umstand, dass das Nichtserielle, also das Gruppierte, sich nirgendwo aus einer gedeihlichen Zusammenarbeit ergibt, obwohl diese Möglichkeit nicht explizit ausgeschlossen wird. Doch sind die breit ausgeführten Beispiele im ersten Band Revolutionäre, die auf der Flucht vor den Häschern des Königs sind, im zweiten proletarische Boxer, die gegen ihresgleichen aufgehetzt werden. Außerdem geht es im zweiten Band um den verzweifelten Überlebenskampf der Sowjetunion. Am Beginn der Gruppenfusion steht jeweils ein Konflikt um dringend benötigte Güter, der zu einem tödlichen Kampf eskalieren kann. Der Gesellschaftslehre Montesquieus und vieler anderer genau entgegengesetzt, schließen sich Ego und Alter, das Ich und sein einstiger Fressfeind, der Andere, nicht aus Lust und Liebe zusammen, sondern um gemeinsam einer Not oder einer Gefahr zu trotzen.

Das kommt einem streckenweise wie Determinismus vor und ist doch keiner: Das von Überwindung und Gruppe hervorgebrachte Subjekt behält eine letzte Autonomie und könnte den der Gemeinschaft geleisteten Treueschwur (»serment«) jederzeit widerrufen. Die Gruppe wappnet sich gegen diese Möglichkeit (wie im Ballhausschwur der Französischen Revolution oder in den Moskauer Prozessen) mit einer »Fraternité-terreur«, also einer Schreckensbruderschaft, die die Abweichler eliminiert. (Der Begriff machte großen Eindruck auf den in Algerien lebenden Revolutionär Fanon, der Zeuge solcher Morde war.)

Es bieten sich aber auch subtilere Mittel der Vergemeinschaftung an. Genannt sei die Figur des »Dritten« (»tiers«). Der Dritte ist das unhierarchisch ordnende Prinzip einer Gruppe. Man versetze sich in die Akteure der Französischen Revolution: »Ich renne mit den andern mit, ich brülle: ›Halt!‹, alle bleiben stehen, jemand brüllt: ›Teilen wir uns auf!‹ oder auch ›Nach links! Nach rechts! Zur Bastille!‹ Alle teilen sich auf, folgen dem ordnenden Dritten, schließen sich um ihn zusammen, überholen ihn, kommen auf ihn zurück, nachdem vorübergehend ein anderer Dritter mit einer ›Parole‹ oder einem für alle sichtbaren Verhalten zum Ordnungsfaktor geworden ist. Aber der Parole wird nicht etwa gehorcht. Denn wer befiehlt hier? Und wer gehorcht? Es handelt sich um nichts anderes als um eine gemeinschaftliche Praxis, die sich in einem ordnenden Dritten kristallisiert – in mir oder in allen Dritten dieser Bewegung, welche mich mit den anderen totalisiert.« (I, 408)

Hier wird also nicht (wie bei Georg Lukács) Totalität vorausgesetzt, hier drängt sie sich auf, sobald die Subjekte erkennen, dass die anderen als andere etwas mit ihnen gemein haben und sie zusammen ein potentielles Ganzes ergeben. Totalisierung ist also der Selbstentwurf aufs Ganze, auf eine Einheit hin, die aber, würde sie erreicht, selbst wieder (als verdinglicht) überwunden werden müsste. Als wesentliche Leistung der Subjekte geht sie von den jeweils Agierenden aus (nur in der »umschließenden Totalisierung« verhält es sich anders; auf sie ist deshalb gesondert zurückzukommen). Wenn der Maurer ein Haus baut oder die Revolutionärin sich in den Häuserkampf stürzt, haben sie beide eine Totalität vor Augen.

An dieser Stelle bringt Sartre einige herbe Gedanken ins Spiel, die mit einem Sätzchen zusammengefasst werden können: Jede Tätigkeit erzeugt Untätigkeit. Anders gesagt: Was wir machen, macht uns. Nehmen wir den erwähnen Maurer, der (totalisierend) das Haus baut. Er muss, um dies zu tun, seine Hand zu einem Werkzeug, also zu einem Ding werden lassen. Das fasst Sartre mit dem Begriff des »Praktisch-Unbewegten« oder »Praktisch-Trägen« (»pratico-inerte«). Gemeint ist eine Verdinglichung, die sich aus der Aktion selbst ergibt. Wenn, wie Marx sagte, die Menschen »Geschichte machen«, dann macht die Geschichte auch sie, und sie erscheint ihnen schließlich als eine »fremde Macht« (I, 62), die sie formt, beengt und drängt.

Zu einem Teil der fremden Macht des Praktisch-Unbewegten wird das, was Sartre »Exis« nennt. Der Begriff leitet sich vom aristotelischen »hexis« her, das eine eingefleischte Gewohnheit meint. Die Schwüre und Verbindlichkeiten, die geteilte Sprache, die Rituale, die »bearbeitete Materie«, all das hemmt als »verinnerlichte Vergangenheit« (II, 209) die Praxis.

Wir haben also zwei grundsätzliche Bewegungen vor uns: Zwar drängen die Mangelsituation (»rareté«), die Gefahr und der Angriff des Gegners zum gemeinsamen Handeln, schmieden sie eine Gruppe, doch bringt dieser Prozess neue Widerstände, neue Mängel und Nöte, auch neue Gegner hervor. Gesellschaft ist Kampf (wenn auch nicht immer Klassenkampf). Nach diesem Schema durchdenkt Sartre im zweiten, unvollendeten Band der »Kritik« die Geschichte der Sowjetunion.

Ideologisches Monstrum

Als die Russische Revolution geglückt war, standen ihre Ergebnisse schon wieder auf dem Spiel. Das Land, in den Produktivkräften schwach entwickelt, hatte unter dem Krieg gelitten und war international isoliert, erst recht, als die europäischen Revolutionen kläglich scheiterten. Das war ohne Zweifel eine »rareté«: Der Sowjetunion mangelte es nach 1917 an Produktionsmitteln, an Ausbildung, an Zeit. Bei allen ihren Unterschieden sahen sowohl Stalin als auch Trotzki, es gebe nur ein Mittel, diese Mangelsituation zu überwinden: die Steigerung der Produktion. Uneins waren sie sich nur über den politischen Rahmen, in dem sich diese vollziehen sollte.

Trotzki steht für Universalismus oder Internationalismus, Stalin für Partikularismus oder Nationalismus. Doch schon die erzwungene Steigerung der Produktion war eine Wendung des Landes auf sich selbst, also ein Partikularismus. Aus dieser Entwicklung ergab sich das »ideologische Monstrum« (II, 109) vom »Sozialismus in einem Land«. Einerseits zeugt der Slogan von einem »entfremdeten Marxismus« (II, 120). Denn wann und wo sollen sich denn die Proletarier aller Länder vereinigen? Andererseits hält er eine Notwendigkeit fest: Die Revolution muss an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit stattfinden, sie muss sich auch institutionalisieren, ja, sie muss »durch das Nadelöhr hindurch« (II, 117), das wir Verwirklichung nennen sollten.

Prinzip steht hier gegen Kontingenz: Vollzieht sich das universalistische Projekt, wird es, seinen Absichten zum Trotz, nicht nur konkret, sondern auch partikular, unter Umständen national. Gleichwohl blieb die Sowjetunion die Nation, die alle andern Nationen befreien, das heißt unter sozialistischen Vorzeichen internationalisieren sollte; dem Partikularismus blieb also etwas Universales eingeschrieben. In einem Gespräch mit einem algerischen Untergrundblatt schlug Sartre 1959 sowohl die algerische Freiheitsbewegung wie die Résistance in Frankreich einem »universalistischen Nationalismus« zu.

Trotzkisten wie Daniel Bensaïd und die üblichen Antikommunisten haben Sartre vorgeworfen, »das revolutionäre Projekt mit dem Stalinismus in eins gesetzt« zu haben. In Wahrheit zeigt er, ohne zu moralisieren, wie Stalins Praxis zur »monströsen Karikatur ihrer selbst« (II, 246) werden musste; auch Stalins Antisemitismus widmet er ein Unterkapitel (II, 274–282). Allerdings gehört Sartre nicht zu den Opportunisten, die der Sowjetunion absprechen, sozialistisch gewesen zu sein, er gehört nicht zu all jenen, die behaupten, der Sozialismus komme erst am Sankt-Nimmerleins-Tag.

Er vollzieht die ungünstigen Umständen nach, unter denen die bolschewistische Revolution stattfand. Just in der Zeit, in der einzig Produktion die Devise sein kann, fehlt es an dem Proletariat, das diese Produktion zu tragen in der Lage wäre. Die proletarische Revolution ist ohne Proletarier, hauptsächlich mit Bauern und Soldaten, vonstatten gegangen. Arbeiterräte sind »1958 vorstellbar, 1930 waren sie es noch nicht« (II, 138). Die Regierung muss dieses Proletariat erst erschaffen – und erschafft sich dabei selbst: »Im Produzieren produziert sich das Regime.« (II, 137) Sozialistisch ist das System, da die Produktionsmittel Gemeineigentum sind. Zwischen dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln und der Kontrolle über sie kommt es allerdings zu einer Trennung. Die Kontrolle ist einer Funktionärskaste anvertraut, die die Funktion des (lange) abwesenden Proletariats übernimmt. Für die Sowjetunion gilt: »Unterdrückung ist keine Ausbeutung, es gibt keinen Klassenkampf, also existiert die Arbeiterklasse nur an sich, nicht für sich« (II, 169), sie existiert, jedenfalls zu Beginn, nur als Objekt, nicht als Subjekt.

Antiarbeit

Es überrascht, dass ein Existenzialist das Ökonomische, nicht das Politische oder das Individuelle in den Vordergrund rückt. Sartre vertraut der eigenen Theorie, wonach es die (ökonomische) Tätigkeit selbst ist, die Untätigkeit erzeugt. Hinzu tritt die Einsicht, dass jedes »dépassement« eine ungewollte Konsequenz, eine »Gegenfinalität« (»contre-finalité«), nach sich ziehen kann. Im ersten Band der »Kritik« ist das Beispiel für eine solche Gegenfinalität der Versuch der alten Chinesen, dem Mangel an Baumaterial mit einem Abholzen der Wälder zu begegnen. Das führte zur Überflutung der baumlosen Landstriche, die Lage gestaltete sich hinterher schlimmer als zuvor. Im zweiten Band ist sein Beispiel die Sowjetunion.

Stalins Terror erscheint bei Sartre nicht als Ursache, sondern als Folge der zwischen sozialistischer Regierung und den Massen sich vertiefenden Fremdheit. Diese Fremdheit soll in einer Einheit überwunden werden, für die Stalin, das »kollektive Individuum« (II, 209), steht. So verfestigt sich die schon erwähnte »umschließende Totalisierung« (»totalisation d’enveloppement«), die nicht von den Handelnden selbst ausgeht, sondern an sie herangetragen wird. Es gibt dann eine totalisierende Instanz, hier: Stalin, die als »unbewegte Synthese« (II, 198) idealerweise alle individuellen Praktiken in sich einschließt. Kurz, was die Entfremdung hat überwinden sollen, trägt in einer Gegenfinalität selbst zur Entfremdung bei.

Die »umschließende Totalisierung« bezeichnet eine externe Macht, die von allen einzelnen verinnerlicht werden muss. Ob sie bereits gruppiert sind, spielt dabei keine große Rolle. Sartre, der doch der Philosoph des subjektiven Handelns »quia absurdum« war, hält mit diesem Begriff unsere objektive Ohnmacht fest. Die »umschließende Totalisierung«, der wir gerade unter Donald Trump unterworfen sind – denn egal, ob pro oder contra Trump, sind wir alle Teil dieses üblen Ganzen –, ist einer von vielen Gründen dafür, dass die »Kritik der dialektischen Vernunft« aktuell bleibt. Ein weiterer ist der Gedanke vom Mangel als Voraussetzung jeder sozialen Entwicklung. Dass Sartre mitten in der Überflussgesellschaft der späten 1950er das Soziale aus dem Vermissten ableitet, erscheint heute geradezu prophetisch. Es ist längst absehbar, wie karg und sauer das Leben wird, wenn, wie schon heute in vielen Ländern, die Ressourcen zur Neige gehen. Wie kurz später in seiner autobiographischen Schrift »Die Wörter« (1964) stellt Sartre schon in der »Kritik« fest, die Erde sei »nicht für die Menschen gemacht« (II, 230). Vor dem Hintergrund des Mangels steht die Geschichte als eine von »sterblichen Organismen« (II, 323) vor uns. Man bemerke, wie sich selbst in Sartres materialistischen Manövern etwas Existenzialistisches erhält.

Stets aktuell bleibt seine Unterscheidung zwischen dem Analytischen und dem Dialektischen (oder, hegelianisch gesagt, zwischen Verstand und Vernunft). Auf dieser Unterscheidung beharrten auch die Theoretiker aus dem Umkreis der Frankfurter Schule (etwa Ernst Bloch in seiner »Erbschaft dieser Zeit« von 1935). Diese Dialektik versucht, dem bloß Technisch-Rationalen eine Geschichte abzuringen und die Widersprüche im Positivismus aufzuzeigen. Das ließe sich heute leicht an der »künstlichen Intelligenz« demonstrieren, die der Inbegriff des Rational-Analytischen, des Praktisch-Unbewegten ist. Sie kann als »Antiarbeit« (»anti-travail«) in einer serialisierten Gesellschaft viele Tätigkeiten ersetzen, aber ist doch zu einem niemals in der Lage: zur Überwindung, also zum Schlüpfen durchs Nadelöhr des Realen in eine neue Situation. Dass uns diese Überwindung aufgetragen ist, sagen der junge und der alte Jean-Paul Sartre gleichermaßen. Der alte fügt lediglich hinzu, wie schwer das ist. Die Aufgabe bleibt aber auch für ihn bestehen: Wer nicht ausbricht, ist nicht.

Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 23. April 2025 über den Maler William Turner: »Die Position des Polyphem«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (24. Juni 2025 um 10:54 Uhr)
    »Trotzki steht für Universalismus oder Internationalismus, Stalin für Partikularismus oder Nationalismus.« Wer spricht da: Sartre oder Ripplinger? Falsch ist es auf jeden Fall. Trotzki hat versucht, den Aufbau des Sozialismus zu sabotieren und die Arbeiter mit seinem Geschwätz von der »permanenten Revolution« zu verwirren und auf den St. Nimmerleinstag zu vertrösten und damit dem Internationalismus entgegengewirkt. Partikularismus bedeutet nach Duden das »Streben staatlicher Teilgebiete, ihre besonderen Interessen gegen allgemeine Interessen durchzusetzen«. Das ausgerechnet Stalin vorzuwerfen, der die Völker der Sowjetunion (bestehend aus 15 (!) Unionsrepubliken) im Sinne Lenins zusammengeführt hat, ist geradezu grotesk.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. Juni 2025 um 21:46 Uhr)
    Seine Frau Simone de Beauvoir über Sartre (Aus La Force des choses, dt. Der Lauf der Dinge, 1963): »Sartre war ein Mensch, der sich keine Ruhe gönnte. Er musste immer reden, immer schreiben, immer denken – als fürchte er, sonst könne er sich verlieren. (…) Manchmal erschien er mir wie ein Automat, dem man einen Auftrag gegeben hat, den er unaufhörlich ausführt, ohne je innezuhalten und zu fragen, warum.« Sartre war ein ständig schreibender Schriftsteller, ein leidenschaftlicher Moralist und ein prägender öffentlicher Scheinintellektueller – aber als strenger Philosoph hat er den Existenzialismus nicht systematisch oder tragfähig begründet. Er hat ihn popularisiert, vielleicht sogar »verkörpert« – aber nicht philosophisch abschließend begründen können!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (21. Juni 2025 um 12:12 Uhr)
    Ehrlich gesagt ist Sartre auch so schon nicht einfach zu lesen. Ist es da wirklich weise, wenn Stefan Ripplinger noch eine Schippe draufpackt, indem er versucht, auch noch die gesamte Auseinandersetzung um den realen Sozialismus mit in seine Abhandlung zu packen? Ja, der Sozialismus ist das Einfache, das schwer zu machen ist. Aber schwer lesbar darüber schreiben muss man doch nicht. Auch deshalb, weil Sartres Beitrag zur praktischen Bewältigung einer ganz praktischen Augabe durchaus nicht so richtig überwältigend geblieben ist. Das ist wie beim Fußball, wo die echte Bewegung angeblich auch immer jenseits der Seitenlinien stattfindet.

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