Hetzjagd invers
Von Max Grigutsch
Wer bei »drei« nicht auf dem Baum ist, wird angezeigt. Mit diesem Vorgehen sah sich am Donnerstag Burak Y. vor dem Amtsgericht Tiergarten konfrontiert. Der Berliner Aktivist hatte am 14. Dezember 2023 als Ordner an einer propalästinensischen Hörsaalbesetzung an der Freien Universität Berlin mitgewirkt und war dort in einen Konflikt mit dem Provokateur Lahav Shapira geraten. Der Student zeigte Y. wegen Körperverletzung und antisemitischer Beleidigung an. Vor Gericht erwiesen sich beide Vorwürfe als nicht haltbar.
Den inoffiziellen Startschuss für das Verfahren lieferte ein Zuschauer: »Alle fünf hier, linke Antisemiten«, so sein Ausruf, der sich gegen eine Gruppe mit Kufija bekleideter Prozessbeobachter richtete. Eine von ihnen schilderte später gegenüber jW, sie seien während der gesamten Verhandlung im Flüsterton als »scheiß Antisemiten« und »Israel-Hasser« bezeichnet worden. Der Linie blieb auch der Anwalt Shapiras getreu, der Y. eine Beteiligung an einer »Hetzjagd« gegen seinen Mandanten vorwarf.
In seiner Befragung des Angeklagten hob er auf dessen politische Positionen ab, sofern sie ihm durch Y.s Veröffentlichungen im Internet zugänglich waren. Angeführt wurden Posts in »sozialen Medien«, ein Spendenaufruf des Angeklagten und Artikel auf dem Internetportal Klasse gegen Klasse. Ferner habe die Gruppe Young Struggle, die angeblich den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 befürwortet habe und demnach als antisemitisch zu begreifen sei, an der Besetzung teilgenommen. Shapira, der als Nebenkläger und Zeuge am Prozess teilnahm, beanstandete zudem einen am Hörsaal aufgehängten Ausdruck, der »diese Landraubgeschichte, die verbreitet wird« dargestellt habe. Gemeint war eine Landkarte, die die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gebiet darstellt, das heute Israel ist. Das Bild sei falsch und antisemitisch, erklärte Shapira, deshalb habe er das Bild abreißen wollen.
An dem Geschehen konnten die Hinweise des Strafverteidigers Lennart Wolgast wenig ändern, der sich ob der Relevanz für den verhandelten Sachverhalt erkundigte – sein Mandant sei nicht wegen seiner politischen Haltung vor Gericht. Die angeklagten Vorwürfe zerstreuten sich in den Augen der Vorsitzenden Richterin allerdings schnell, da Videomaterial der besagten Szenen vorlag. Körperverletzung? »Es war jetzt nichts großartig Dramatisches«, sagte Shapira selbst. Videos, die jW vorliegen, zeigen, wie Y. Shapira mit von sich gestreckten Armen vom Hörsaaleingang fernhält – aber auch, wie Shapira den Angeklagten mehrfach schubst. »Kleine blaue Flecken« – etwa münzgroß – könnte er von einer der Rangeleien davongetragen haben, sicher war er sich nicht mehr. Auch könne er die etwaigen Verletzungen nicht eindeutig auf die Handlungen des Angeklagten zurückführen. Beleidigung? Nicht klar nachzuweisen. Nachfragen gab es bei dem von Y. gestandenen Spruch, Shapira solle sich mal die Zähne putzen, und Variationen der Zuschreibung, er sei ein Zionist, die der Angeklagte aber nicht getätigt haben will. Verworfen wurde der Tatbestand sowieso, da der Strafantrag zu spät eingereicht worden war, so ein Einwurf der Richterin.
Rechtlich änderte die Staatsanwaltschaft ihr Vorgehen. Der neue Vorwurf: Nötigung. Nach Angaben Shapiras habe der Angeklagte ihn für fünf bis 15 Minuten daran gehindert, den Hörsaal zu betreten. Der Staatsanwalt befand das für »verwerflich«, auch wenn die Richterin anmerkte, sie glaube nicht, dass Shapira wegen seines jüdischen Glaubens vom Hörsaal ferngehalten wurde. Mit seinem Verweis auf das Versammlungsrecht konnte sich Y.s Verteidiger indes nicht durchsetzen, die Richterin verurteilte den Angeklagten zu einer Minimalstrafe unter dem Niveau der Forderung der Staatsanwaltschaft. Der Verurteilte kann noch Berufung einlegen.
Für Y. ein Erfolg. »Ich bin kein Antisemit«, freute er sich nach der Verhandlung vor seinen Unterstützern, die eine rund 50köpfige Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude versammelt hatten. Was aber bleibt, ist die Erzählung des linken Antisemitismus – und das vor dem Hintergrund einer Rangelei, die juristisch vermutlich eher wie ein im Wald umfallender Baum anmutet, den niemand hört. Im Grunde sei nichts passiert, witzelte eine anwesende Journalistin. Aber fällt im Wald ein Baum um, zeigt Lahav Shapira ihn an.
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