Nach drüben
Von Ronald Weber
Es war im November 1961, drei Monate nach dem Mauerbau, als der Schriftsteller Peter Hacks andeutete, er könne die DDR auch wieder verlassen. An Alfred Kurella schrieb er von einer »Rufmordkampagne«, die gegen ihn im Gange sei. In der Wochenzeitschrift Sonntag war eine Glosse mit scharfen Angriffen gegen den Autor erschienen,¹ und Hacks war es nicht gelungen, die Redaktion zum Abdruck einer Gegendarstellung zu bringen. Auch das Einschalten der Rechtsabteilung des Schriftstellerverbandes war folgenlos geblieben. So wandte Hacks sich schließlich an einen Mann, der ihm einflussreich genug erschien – Kurella war Vorsitzender der Kulturkommission beim Politbüro der SED –, um abzuhelfen:
»Ich bitte Sie, lieber Herr Kurella, zu verstehen, dass ich diesen Vorgang mit äußerstem Ernst betrachte. Es ist nicht meine Art, stark beschäftigte Leute mit überlangen Briefen zu plagen. Ich fühle mich jetzt dazu gezwungen, und ich ersuche Sie höflichst, auf die Redaktion des Sonntag dahingehend einzuwirken, dass sie sich einiger simpler Begriffe von Anstand und Rechtlichkeit erinnert. Andernfalls nämlich möge man mir klar sagen, dass man zu verhindern wünscht, dass ich in der DDR meinen Beruf ausübe. Wenn es dahin kommt, dass ein Blatt, langweiliger selbst als die Imkerzeitung, ungestraft mich verleumden und ungestraft mir meine Rehabilitierung verweigern darf, kann ich zu keinem Schluss gelangen als dem: dass der Staat, für den ich, seit ich überhaupt arbeite, gearbeitet habe, entschlossen ist, sich das in alle Zukunft hinein nicht gefallen zu lassen.«²
Die Drohung war implizit: Wer an der Ausübung seines Berufs gehindert wird, was soll der tun? Sich einen anderen Beruf suchen – oder eben den Ort wechseln. Genau das aber hatte Hacks ja sechs Jahre zuvor getan. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Schriftstellerin Anna Elisabeth Wiede, war er am 16. Juli 1955 von München nach Ostberlin übergesiedelt und dort mit offenen Armen empfangen worden.
Freundliche Aufnahme
Gleichsam als Willkommensgruß druckte das Zentralorgan der SED, das Neue Deutschland, damals den leicht gekürzten Schluss des Theaterstücks »Die Eröffnung des indischen Zeitalters«, mit dem Hacks in München berühmt geworden war. Sofort öffneten sich ihm die Türen zu wichtigen Organisationen und Gremien: Bald schon war Hacks Mitglied im Schriftstellerverband und im PEN-Zentrum Ost und West, dem mehrheitlich ostdeutschen Ableger der 1951 gespaltenen Schriftstellerorganisation. Der Beirat der Zeitschrift Theater der Zeit, das wichtigste Bühnenorgan der DDR, lud Hacks im Herbst 1955 zur Mitarbeit ein, und Heinar Kipphardt, Chefdramaturg des Deutschen Theaters, zog ihn zu Beratungen hinzu. In relativ kurzer Frist wurden auch Hacks’ Stücke gespielt, und das nicht irgendwo, sondern an eben jenem Deutschen Theater, das als repräsentativste Bühne des Landes galt; Intendant Wolfgang Langhoff inszenierte die historischen Komödien »Die Schlacht bei Lobositz« und »Der Müller von Sanssouci« 1956 und 1958 höchstpersönlich.
Selbstverständlich war das alles nicht. Auch nicht, dass Hacks von Beginn an als freier Schriftsteller agieren konnte und nicht wie viele andere durch Tätigkeiten in Verlagen und Redaktionen oder kulturpolitischen Institutionen seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Diese Freiheit verdankte er zum einen dem recht frühen Erfolg (nicht zuletzt auch als Kinderbuchautor; so erschien die Sammlung »Das Windloch. Geschichten von Henriette und Onkel Titus« 1956 und 1957 in beiden deutschen Staaten), zum anderen einem zweijährigen Stipendium der Akademie der Künste im Umfang von 1.200 DDR-Mark im Monat, das Bertolt Brecht initiiert hatte.
Der Begründer des Epischen Theaters, der im Begriff war, die DDR mit dem Berliner Ensemble zu einem der bedeutendsten Orte des modernen Theaters zu machen, war für den Mittzwanziger eine zentrale Figur. Schon in seinem ersten Brief an Brecht hatte Hacks diesen nonchalant als »Papst« in Sachen Ästhetik tituliert; im Rückblick bezeichnete er sich selbst als »fanatischen Brechtianer«.³ Dem politischen Rat des 1949 nach zwölf Jahren Exil und zweijährigem Aufenthalt in der Schweiz ins östliche Deutschland Zurückgekehrten wollte Hacks aber nicht folgen. Im erwähnten Brief hatte er frank und frei bekannt, dass er und Anna Elisabeth Wiede »wie alle marxistischen Intellektuellen« überlegten, »in die Ostzone zu gehen, und natürlich können wir uns, ohne Möglichkeiten, die Sache selbst zu übersehen, nicht recht entschließen«. Woran sich die Frage anschloss: »Mögen Sie uns nicht raten?« Brecht beantwortete sie zurückhaltend: »Gute Leute sind überall gut (und können überall besser werden).«⁴ Was Hacks durchaus als Absage wahrnahm, ihn aber nicht daran hinderte, die Pläne zur Übersiedlung in die DDR mit Elan voranzutreiben.
Peter Hacks, der in Breslau, dem heutigen Wrocław, aufwuchs, stammte aus einer linken Familie. Der Vater – bis zum Verbot durch die Nazis als Anwalt tätig – sowie eine Großcousine waren Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, einer linken Abspaltung der SPD, die sich zu Beginn der 1930er Jahre für eine Einheitsfront gegen die Nazis stark machte; eine Tante und deren Ehemann waren in der Roten Hilfe aktiv. Die Familie, die in Teilen auch von der Repression der Faschisten betroffen war, war also dezidiert antifaschistisch. Hacks wurde dementsprechend mittels ärztlicher Atteste von der Teilnahme an der Hitlerjugend ferngehalten und in seiner antinazistischen Haltung bestärkt. Als er im März 1946 in Wuppertal, wohin er nach kurzer US-amerikanischer Gefangenschaft im Anschluss an seine Flucht aus Breslau gelangt war, das Abitur ablegte, konstatierte er in seinem Abituraufsatz, dass sich in Deutschland seit dem 8. Mai 1945 an der Gesinnung der Menschen nicht viel verändert habe. Die Deutschen seien »ein Volk der Mörder und Diebe«, das »zu 80 Prozent nationalsozialistisch war und zu 50 Prozent heute noch ist«. Zugleich hielt er fest, dass »an Stelle der heutigen innenpolitischen Entwicklungen etwas anderes« zu setzen sei: »Vernunft, Materialismus, Sozialismus«. Im Lebenslauf, den Hacks für die Reifeprüfung einreichte, schrieb er: »Zur besonderen Freude gereicht es mir, dass meine linksorientierte politische Stellung sowie meine Ablehnung der Religion gegenüber sich durch alle Wirrnisse der letzten Jahre hindurch ohne Erschütterungen gehalten haben.«⁵
Im Lebenslauf nannte Hacks 1946 noch Schopenhauer als philosophischen Gewährsmann. Das änderte sich mit der Aufnahme des Studiums der Literatur- und Theaterwissenschaft in der bayerischen Hauptstadt (Nebenfach: Philosophie und Soziologie), in deren Randgemeinde Dachau die Familie Hacks nach dem Ende des Faschismus gezogen war. Im Rahmen des Soziologiestudiums sowie eines einsemestrigen Studiums der Volkswirtschaft beschäftigte Hacks sich erstmals intensiv mit marxistischer Literatur. Die Liste der in der heimischen Bibliothek befindlichen Bücher, die er anlässlich der Übersiedlung in die DDR aufstellen musste, gibt Aufschluss über seine Lektüre. Sie enthält die wesentlichen Schriften von Marx und Engels sowie Texte Lenins, Stalins und Mao Zedongs. Neben Klassikern wie Franz Mehrings »Lessing-Legende« stehen aktuelle Publikationen Ernst Blochs, Hans Mayers und Georg Lukács’.⁶ Für die Frühzeit der Bundesrepublik, die durch einen militanten Antikommunismus geprägt war, ist das durchaus ungewöhnlich, ebenso wie der Umstand, dass Hacks’ frühe Funk- und Theaterstücke, die sich um den Begriff der Vernunft und deren gesellschaftliche Umsetzung drehen, von den zeitgenössischen Modeströmungen eines christlich oder existentialistisch getönten Sozialismus vollkommen unbeleckt blieben.
Nach der Promotion in Theaterwissenschaft über »Das Theater des Biedermeier (1815–1840)« schlug Hacks sich eine Zeit lang als Kabarett- und Funkdichter durch. Ab 1952 war er als freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks tätig. Aber das währte nur kurz, denn schon bald erhielt er dort Sendeverbot. Hacks hatte in dem Weihnachtsstück »Das Christkind und der Gangster« das Christkind entführen lassen. Der Sender mahnte Umarbeitungen an, war aber auch mit diesen unzufrieden und drohte Hacks schließlich mit einer Anzeige nach Paragraph 166 des Strafgesetzbuches (»Verunglimpfung religiöser Bekenntnisse«).
1953 öffneten sich für Hacks endlich die Pforten der Theater. Er knüpfte erste Kontakte zu den Münchner Kammerspielen. Deren Dramaturg Werner Bergold zeigte sich begeistert von Hacks’ »Das Volksbuch vom Herzog Ernst, oder: Der Held und sein Gefolge«, einer dramatischen Demontage des fürstlichen Helden, deren demonstrativ zur Schau gestellte Ideologiekritik recht deutlich verrät, dass Hacks mittlerweile seinen Brecht gelesen hatte. Gespielt aber wurde das Stück nicht. Erst mit dem Columbus-Drama »Eröffnung des indischen Zeitalters«, jenem dialektischen Spiel über die widersprüchliche Dynamik des Fortschritts, gelang Hacks schließlich der Durchbruch. Im Sommer 1954 gewann er einen mit 2.000 D-Mark dotierten Wettbewerb für junge Autoren der Stadt München. Im März des Folgejahres inszenierte der Intendant der Kammerspiele, Hans Schweikart, das Stück. Die Feuilletons – in der Verortung der geistigen Quellen durchaus uneins; die einen erkannten Sartres Existentialismus, die anderen marxistischen Dogmatismus – konstatierten einhellig das Auftauchen eines neuen dramatischen Talents. Um so überraschter reagierte die Öffentlichkeit, als bekannt wurde, dass Hacks im Juli seinen Wohnsitz nach Ostberlin verlegt hatte.
Einer von 40.000
Die Übersiedlung war gewiss ein kleiner Sieg der DDR im großen Propagandakrieg mit der Bundesrepublik. Was sich in der Rückschau und vor dem Hintergrund der gängigen DDR-Erzählungen aber als Ausnahme darstellt, war ein bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 durchaus gewöhnlicher Vorgang. Zwar überwog die Zahl der Menschen, die von Ost nach West emigrierten, bei weitem die Zahl derjenigen, die in die DDR gingen, aber es waren eben auch nicht nur ein paar hundert. 1955 zogen insgesamt 42.505 Menschen aus der BRD in die DDR (439.529 gingen in den Westen; also ein Verhältnis von etwa 1:10, das auch ungefähr der Gesamtbilanz der deutsch-deutschen Migration zwischen 1950 und 1990 entspricht). Die Motive waren höchst unterschiedlich. Sie reichen von familiär-privaten bis hin zu mehr oder weniger politischen. So kamen gut zehn Prozent der Zuwanderer aufgrund der sozialen Versprechungen (vor allem wegen der in der DDR-Verfassung zugesicherten Wohnraumversorgung), viele nutzen auch die offene deutsch-deutsche Grenze, um ihren Schuldnern in der Bundesrepublik zu entgehen oder der Justiz auszuweichen. Der Historiker Bernd Stöver geht von einem Verhältnis von 40:60 zwischen politischen und privaten Motiven aus.⁷
Zu welcher Gruppe Peter Hacks zählt, ist eindeutig. Zumal von einem wirtschaftlichen Vorteil wahrlich nicht die Rede sein kann; der Verleger Hans-Joachim Pavel vom Münchner Drei-Masken-Verlag versuchte nach der Übersiedlung vergeblich, Hacks’ Stücke an den westdeutschen Bühnen unterzubringen. Das änderte sich erst im Laufe der 1960er Jahre, als die Auffassung, die in der DDR entstandene Literatur sei lediglich »eine deutschsprachige Abteilung der sowjetischen Literatur«,⁸ langsam in den Hintergrund trat.
Die Migrationsforschung unterscheidet zwischen Push- und Pull-Faktoren. Beide sind im Falle Hacks deutlich politisch bestimmt: Hacks lehnte die restaurative Adenauer-BRD und deren spezifisch bayerische Ausprägung entschieden ab; zugleich setzte er auf eine Überwindung des Kapitalismus im Rahmen eines sozialistischen Staatswesens. Politische Vorbehalte hinsichtlich einer Einschränkung seiner Autonomie als Schriftsteller hatte Hacks nicht, und offenbar ging ihm auch der Idealismus ab, der manch anderen linken Intellektuellen in den 1950er Jahren bewegte, in die DDR zu gehen. Nach einem Besuch bei seiner Tante, der vormaligen Rote Hilfe-Aktivistin, in Halle (Saale) im Oktober 1952 schrieb er nüchtern an Anna Elisabeth Wiede: »Die Tugenden sind nicht ganz so ideal und die Nachteile nicht ganz so schröcklich (…), es ist im Grunde so läppisch wie anderwärts auch.«⁹
Die Fragen des Jahrhunderts
Ob aber idealistisch oder nicht, schaut man sich an, welche Autoren vom Westen in die DDR übersiedelten, erstaunt zunächst deren schiere Zahl. Die Literaturwissenschaftler Margrid Bircken und Andreas Degen kommen auf der Grundlage eher konservativer Kriterien (nicht mitgezählt wurden Sachbuchautoren und wissenschaftliche Autoren) auf 100 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zwischen 1945 und 1989 aus einem westlichen Land für mindestens ein Jahr in die Sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR eingewandert sind.¹⁰ Fast die Hälfte von ihnen waren Emigranten, die zuvor in einem westlichen Exilland gelebt hatten: Erich Arendt, Bertolt Brecht, Louis Fürnberg, Stefan Heym, Ludwig Renn, Anna Seghers und Arnold Zweig wären hier zu nennen. Relativ klein fällt die Gruppe derjenigen aus, die während des Faschismus in Deutschland geblieben waren und anschließend in den Osten gingen. Der berühmteste, seinerzeit auch medial breit wahrgenommene Fall, ist hier sicherlich Arnolt Bronnen. Peter Hacks zählt zur größten Gruppe der Autoren, die keinen Exilhintergrund hatten und die meist erst in der DDR als Schriftsteller bekannt wurden. Die meisten von ihnen waren mehr oder weniger überzeugte Sozialisten, die auch durch die Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten jenseits der Elbe angezogen wurden, darunter prägende Namen für die DDR-Literatur der 1960er Jahre wie: Wolf Biermann, Adolf Endler, Paul Wiens und Fred Wander.
Fasst man ins Auge, mit welchen Zensur- und sonstigen Problemen Autoren in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik konfrontiert waren – beispielsweise überlegte Arno Schmidt angesichts juristischer Angriffe und der Remilitarisierung, in die DDR zu gehen –, so fällt bei Hacks in puncto West-Ost-Migration eben doch eine Besonderheit auf: Er wurde weder politisch verfolgt noch zensiert (sieht man von der Anekdote mit dem Bayerischen Rundfunk ab), vielmehr standen ihm alle Wege offen, in der Bundesrepublik eine erfolgreiche Karriere als Schriftsteller zu beginnen; und auch die Motivation, in der DDR eine Hochschule zu besuchen, war bei Hacks nicht gegeben, der ja bereits 1951 promoviert worden war. Als fertig ausgebildeter, etablierter Schriftsteller stellt Hacks unter den Übersiedlern seiner Generation tatsächlich eine Ausnahme dar.
Eine ähnliche Ausnahme – allerdings aufgrund der zeitlichen Umstände – war der Schriftsteller Ronald M. Schernikau, der 1986 zum Studium am Literaturinstitut nach Leipzig zog und noch 1989 Staatsbürger der DDR wurde. Gleichsam als Neuauflage hatte er Hacks im April 1987 gefragt, ob er nicht in der DDR bleiben solle: »neuerdings liest man, brecht habe ihnen abgeraten. vielleicht könnte ihre warnung mich so ermutigen, dass was draus wird.« Hacks’ Antwort ist eine Variation des Brechtschen »Gute Leute sind überall gut«, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: »Ihre Frage, ob die DDR zum Vaterland zu wählen, ist bis zu einem gewissen Grad beantwortbar. Falls Sie vorhaben, ein großer Dichter zu werden, müssen Sie in die DDR; sie allein stellt Ihnen – auf ihre entsetzliche Weise – die Fragen des Jahrhunderts. Sollte hingegen Ihr Talent darin liegen, Erfolg zu haben und Menschen zu erfreuen – in dem Fall würde ich mir einen solchen Entschluss noch überlegen.«¹¹
Damit wäre retrospektiv im Fall Hacks auch die Frage nach dem entscheidenden Pull-Faktor der DDR beantwortet: Hacks ging davon aus, dass allein die sozialistische Gesellschaft mit ihren neuartigen Widersprüchen noch den Entwurf großer Kunst erlaube. Auf dieser Grundlage fußte letztlich auch Hacks’ ästhetischer Ansatz einer postrevolutionären, klassischen Dramatik, mit der er Ende der 1960er Jahre zum meistgespielten Autor in Ost und West aufstieg.
Eine Reihe von Angriffen
Um aber ein großer Dichter werden zu können, muss man dichten dürfen. Und gerade das sah Hacks im Winter 1961 bedroht. Dabei hatte die Glosse im Sonntag einen fast harmlosen, nämlich schlicht missverständlichen Hintergrund, wenngleich der Umgang damit tief blicken lässt. Im Septemberheft der Neuen Deutschen Literatur, der Zeitschrift des Schriftstellerverbands, waren vier Tierfabeln von Hacks erschienen, die dieser noch in München verfasst hatte. In einer dieser Geschichten tritt ein Steinbock mit »Gamsbart am Kinn« auf. Da Hacks geahnt hatte, dass dies möglicherweise missverstanden werden könnte, hatte er die Redaktion des Sonntag gebeten, unter die Fabeln deren Entstehungszeitpunkt zu setzen. Das aber war aufgrund von Schlamperei vergessen worden, und so erkannten einige kurz nach dem Mauerbau besonders wachsame Funktionäre eine satirische Kritik am Vorsitzenden der SED, Walter Ulbricht. Die Bezirksleitung der SED Leipzig beauftragte daraufhin den Schriftsteller Hanns Maaßen mit dem Angriff auf Hacks.
Dass sich das Missverständnis mittels einer Gegendarstellung nicht einfach aus der Welt schaffen ließ, nährte bei Hacks den Verdacht, es gehe um mehr. Tatsächlich war der Vorwurf, Hacks habe Walter Ulbricht in der Fabel vor aller Öffentlichkeit durch den Kakao gezogen, bereits Mitte Oktober bei einer Sitzung des Schriftstellerverbands aufgetaucht, die sich mit Heiner Müllers Komödie »Die Umsiedlerin oder: Das Leben auf dem Lande« beschäftigte. Das am 30. September uraufgeführte Stück, das die Geschichte der DDR, beginnend mit der Bodenreform und mit der Kollektivierung endend, zeigte und dabei nicht mit beißender Kritik sparte, galt sofort als »konterrevolutionär« (vgl. jW-Thema vom 30.9.2021). Die Sitzung diente der Abrechnung mit der Komödie, aber es ging eben nicht nur um Müller, der wenig später aus dem Verband geworfen wurde, sondern auch um dessen Verteidiger – und zu denen zählte auch Hacks. Im Mai hatte der Dramatiker einen Essay veröffentlicht, in dem er Müllers Handhabung des Blankverses als ästhetische Entsprechung der widersprüchlichen Verhältnisse in der DDR gelobt hatte. Bei der Sitzung kam neben den Fabeln dann auch dieser Essay zur Sprache, und Siegfried Wagner, der Leiter der Kulturabteilung beim ZK der SED, ging noch weiter: Er unterstellte Hacks, Müller und anderen die Bildung einer Oppositionsgruppe, die absichtsvoll gegen Staat und Partei vorgehe, was einem krassen Affront gleichkam (einmal ganz abgesehen von möglichen strafrechtlichen Konsequenzen). Die Glosse im Sonntag war aus Hacks’ Perspektive also nur ein weiterer Schritt in einer Reihe von Angriffen.
Der Brief an Alfred Kurella zeigte offenbar Wirkung. Zumindest versicherte dieser, den Sonntag »privat« veranlasst zu haben, sich nicht mehr an dem zu beteiligen »was Sie, etwas dramatisierend, als ›Rufmordkampagne‹ bezeichnet haben«.¹² Das ist bemerkenswert und durchaus ein Eingeständnis der kulturpolitischen Überreaktion unmittelbar nach dem Mauerbau. Die Maßnahmen gegen Hacks und dessen Kunst fanden damit aber keineswegs ein Ende. Sie nahmen im Laufe der 1960er Jahre mit der Absetzung der Stücke »Die Sorgen und die Macht« und »Moritz Tassow« und vielen weiteren Querelen vielmehr noch zu. Da der Dramatiker sich mit der politischen Entwicklung der DDR nach dem Mauerbau aber weitgehend einverstanden zeigte, war er geneigt, sie als den »gewöhnlichen Ärger der Leitung mit der Dichtung und der Dichtung mit der Leitung« zu erklären.¹³
Keine Alternative
Ob Hacks im Winter 1961 wirklich an ein Verlassen des Landes gedacht hat, ist ohnehin zweifelhaft. Immerhin hatte er seinem Freund Heinar Kipphardt noch zwei Jahre zuvor vorgehalten, die DDR Hals über Kopf verlassen zu haben – Kipphardt war unter anderem in die Mühlen jener Kulturkommission geraten, die Kurella leitete –, sich aber über die Alternativen nicht wirklich Gedanken gemacht zu haben: »Was wirst Du machen? Deine Zukunft ist objektiv ungewiss und schwer voraussagbar. Vielleicht wirst Du Dummendoktor in Mexiko. Vielleicht wirst Du Schnulzenschreiber in München. Vielleicht wirst Du Vortragsreisender und informierst nicht überraschte Rundfunkhörer darüber, dass der Sozialismus in der DDR der wahre Sozialismus doch eben nicht sei.«¹⁴
Nach der sogenannten Wende, die ihm wie vielen anderen Kommunisten als »Okkupation« erschien, zählte Peter Hacks zu den wenigen DDR-Autoren von Rang, die den ostdeutschen Sozialismus trotz aller Kritik offensiv verteidigten. Gegenüber dem Literaturwissenschaftler Frank Tichy äußerte er im November 1992: »Schlechterdings nicht denkbar für mich wäre (…), also aus meinem Herzen heraus, dass ich etwas anderes getan hätte, als in die DDR zu gehen. Da fällt mir keine Alternative ein als tot sein.«¹⁵
Anmerkungen:
1 Vgl. Hanns Maaßen: Tierfabeln sind ein seltsames Spiel. Herbstliche Entdeckungen in unserer Literatur, Sonntag, 5.11.1961, S. 10
2 Peter Hacks an Alfred Kurella, 20.11.1961, Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
3 Peter Hacks an Bertolt Brecht, 30.10.1951. In: Peter Hacks: Verehrter Kollege. Briefe an Schriftsteller, hg. v. Rainer Kirsch. Berlin 2006, S. 8, und Gottfried Fischborn/Peter Hacks: Fröhliche Resignation. Interviews, Briefe, Aufsätze, Texte. Berlin 2007, S. 57
4 Bertolt Brecht an Peter Hacks, 15.1.1952. In: Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 30: Briefe 3. Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1998, S. 105
5 Der junge Hacks (DjH), Bd. 4: Prosa, hg. v. Gunther Nickel. Berlin 2018, S. 16 f., und DjH, Bd. 5: Briefe und Lebensdokumente, S. 331
6 Vgl. ebd., S. 382 ff.
7 Vgl. Bernd Stöver: Rübergemacht. Die DDR als Einwanderungsland. In: Margrid Bircken/Andreas Degen (Hg.): Reizland DDR. Deutungen und Selbstdeutungen literarischer West-Ost-Migration. Göttingen 2015, S. 36 f. und 39
8 Werner Wilk: Deutsche Literatur, Abteilung Sowjetzone! In: Neue Deutsche Hefte 1 (1954/55), H. 4, S. 465
9 Peter Hacks an Anna Elisabeth Wiede (Ende Oktober 1952), DLA
10 Vgl. Bircken/Degen (Hg.): Reizland DDR (wie Anm. 7), S. 17 ff.
11 Ronald M. Schernikau an Peter Hacks, 18.4.1987, und Peter Hacks an Ronald M. Schernikau, 30.4.1987. In: Ronald M. Schernikau: Dann hätten wir noch eine Chance. Briefwechsel mit Peter Hacks. Texte aus dem Nachlass. Hamburg 1992, S. 21 f.
12 Alfred Kurella an Peter Hacks, 8.1.1962, DLA
13 Peter Hacks: Werke, Bd. 13. Berlin 2003, S. 206
14 Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 22.12.1959. In: Hacks, Kipphardt: Du tust mir wirklich fehlen. Der Briefwechsel, hg. v. Uwe Naumann. Berlin 2004, S. 20
15 Felix Bartels; Ronald Weber: »Ich bin an Freiheit absolut uninteressiert«. Protokoll des Gesprächs von Frank Tichy und Peter Hacks im November 1992 in Berlin. In: Hacks-Jahrbuch 2016, hg. v. Kai Köhler. Berlin 2016, S. 268
Ronald Weber leitet das Themaressort dieser Zeitung. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 31. Dezember 2024 über Wieland Herzfeldes Exil in den USA: »The Hard Way«
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