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Aus: Ausgabe vom 11.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Nazis

Bild und Macht

Matthias N. Lorenz untersucht die blinden Flecken der Erinnerung an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen
Von Ronald Weber
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Symbol des Pogroms: Harald Ewert zeigt den Hitlergruß (Rostock-Lichtenhagen, 23.8.1992)

Ende August 1992 explodierte in Rostock die Melange aus Nachwendedeklassierung, Arbeitslosigkeit und Rassismus. Die Bilder vom Pogrom im Neubaustadtteil Lichtenhagen, an dem sich Hunderte, vor allem Jugendliche, beteiligten, sekundiert von Tausenden teils Beifall klatschenden Zuschauern, gingen um die Welt. Nach den schweren rassistischen Attacken auf ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik im September 1991 in Hoyerswerda-Neustadt verfestigten sie den Eindruck einer gewaltbereiten, faschistischen Jugendkultur in den Städten und Gemeinden der 1990 der Bundesrepublik einverleibten DDR.

Seitdem haben sich zwei Pressebilder in das kollektive Gedächtnis eingeprägt: Das eine zeigt den arbeitslosen Baumaschinisten Harald Ewert, die Hand zum Hitlergruß gestreckt, im Trikot der bundesdeutschen Nationalmannschaft und offensichtlich eingenässter Jogginghose neben einem Unbekannten. Es wurde, vor allem auch international, zum Pars pro toto des fiesen Deutschen. Das andere Bild verdeutlicht die Situation um das sogenannte Sonnenblumenhaus, in dem sich die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) in Mecklenburg-Vorpommern befand. Auf der Aufnahme sieht man die T-Kreuzung vor der ZASt, auf der am zweiten Tag des Pogroms gut 200 Menschen stehen. Im Hintergrund rückt die Polizei mit Wasserwerfern an. Ein Brandsatz explodiert. Eingerahmt wird das Bild vom Panorama der Hochhäuser der Siedlung Groß Klein, über die die riesige Kabelkrananlage der Warnowwerft Warnemünde ragt. Zentral in der linken Bildhälfte steht ein Imbisswagen; es ist einer von dreien, an denen sich Täter wie Zuschauer während des Pogroms mit Bier und Wurst versorgten. Der Slogan »Happi, Happi bei Api« wurde ähnlich wie das Bild Harald Ewerts immer wieder in den Medien aufgegriffen. Matthias N. Lorenz bezeichnet die Imbissbude zu Recht als »Symbol der Normalisierung rechter Gewalt« und zitiert passend dazu den Betreiber »Api«: »Das sind ja keine Menschen, die Zigeuner, das sind Schweine. (…) Schade nur, dass das Ding nicht ausgebrannt ist.«

Das Ding, das ist das Sonnenblumenhaus, in dem im August 1992 nicht nur einige hundert vietnamesische Vertragsarbeiter wohnten, sondern in dem sich auch die ZASt befand, die vollkommen überlastet war. So mussten etwa 300 Geflüchtete – die meisten von ihnen Sinti und Roma aus Rumänien, die dort vor Rassismus und Gewalt geflohen waren – auf der Straße kampieren. Mobile Toiletten oder Zelte aufzustellen hatte die Stadt verweigert. Die Anwohner sahen die Roma vor allem als Störer von »Ruhe und Ordnung«, die sich »gegen jede deutsche Norm« verhielten, wie einer von ihnen gegenüber dem NDR äußerte. So wurden die Opfer zu Tätern gemacht und ihnen die Schuld an den Zuständen zugeschoben.

Dass sich die Angriffe zu Beginn des Pogroms gegen die Roma richteten, ist lange Zeit in den Hintergrund getreten bzw. überlagert worden. Denn von den Vietnamesen und ihren Unterstützern im Sonnenblumenhaus gab es Filmaufnahmen eines dort anwesenden ZDF-Teams. Erst in den vergangenen Jahren wurden die Attacken auf die ZASt im Rahmen biographischer Interviews bekannt.

Dass die Opfergruppe der Roma aus dem mehr oder weniger offiziellen Erinnerungsdiskurs zu Rostock-Lichtenhagen herausfiel, verwundert indes nicht. Die Geschichte des Antiziganismus in Deutschland geht weit zurück. 1992 war es erst zehn Jahre her, dass sich die Bundesregierung dazu durchgerungen hatte, den Völkermord an 500.000 Sinti und Roma als Naziverbrechen anzuerkennen. Zwar hatten Aktivisten um die als »Nazijägerin« bekannt gewordene Beate Klarsfeld schon früh nach dem Pogrom den Zusammenhang zur Verfolgung der Sinti und Roma durch die Nazis hergestellt und auch auf die Asylpolitik der Bundesrepublik hingewiesen. Das aber blieb außen vor bzw. wurde vergessen gemacht.

Wie dieses Vergessen-Machen vor dem Hintergrund des offiziösen Gedächtnistheaters abläuft, warum die Mehrheitserzählung von den »Wirren der Nachwendezeit« so durchsetzungsstark ist und die opferzentrierte Sicht marginal bleibt, wie also das »Doing Memory« funktioniert, untersucht der Hannoveraner Literaturwissenschaftler Matthias N. Lorenz in dem kleinen Bändchen »Nachbilder« nicht nur am Beispiel der hegemonialen Pressefotos von Harald Ewert und dem Happi-Happi-bei-Api-Imbisswagen, sondern auch an drei »vergessenen« Bildern. Sie zeigen das Anbringen einer Erinnerungstafel in Rostock durch eine Delegation französischer Holocaustüberlebender sowie einem Vertreter der Sinti und Roma, den Besuch des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, der öffentlich weint (siehe hierzu die Themaseite vom 22.8.2022) sowie eine selbstbewusst in die Kamera blickende Mutter mit zwei Kindern (Ioana sowie Arabela und Ahmed Miclescu) kurz vor Evakuierung der ZASt am 24. August 1992, vor ihr eine Einkaufstüte mit der in diesem Kontext zynischen Werbeaufschrift »Jetzt können Sie einpacken«.

Alle drei Bilder verweisen auf die Abwehr der Mehrheitsgesellschaft, die das Pogrom und dessen Zusammenhänge vergessen machen wollte: durch Beschweigen oder durch Dekontextualisierung (das beste Beispiel hierfür bot wohl CDU-Kanzler Helmut Kohl, der behauptete, die Angriffe seien von der Stasi inszeniert und gelenkt worden). Der Besuch der französischen Delegation führte seinerzeit nicht nur zu einem gewalttätigen Polizeieinsatz, sondern auch zu einer erregten öffentlichen Debatte, wiesen die Holocaustüberlebenden um Serge Klarsfeld doch entschieden auf den Zusammenhang zwischen den rassistischen Gewalttaten und den Asylrechtseinschränkungen der Bundesregierung hin, die sich insbesondere gegen Sinti und Roma richteten.

Ignatz Bubis’ Solidarität mit den Opfern und seine Tränen, Ausdruck seiner tiefen Betroffenheit, brachten den etablierten deutsch-jüdischen Diskurs, bei dem die Juden den Deutschen stets zu attestieren haben, sie hätten aus der Geschichte gelernt, durcheinander und offenbarten einen tiefsitzenden Antisemitismus; während des Besuchs sprach ein CDU-Lokalpolitiker Bubis die Zugehörigkeit zum deutschen Volk ab. Wenige Jahre später nutzte Martin Walser die Friedenspreisrede des Deutschen Buchhandels, um die »Instrumentalisierung unserer Schande« zu beklagen, und warf Bubis anschließend vor, sich 1992 in Rostock geschickt medial inszeniert zu haben.

Das dritte Bild schließlich stellt die Geschichte der Opfer ins Zentrum. Lorenz nimmt es zum Anlass, den biographischen Erzählungen der Sinti und Roma nachzugehen, die Deutschland nach dem Pogrom zumeist verließen bzw. verlassen mussten (am 1. November 1992 schloss Bonn ein Rücknahmeabkommen mit Rumänien), und die wenig bekannten Angriffe auf die ZASt während des Pogroms zu rekonstruieren. Gerade hier zeigen sich die Leerstellen der Erinnerung. Dass es von seiten der Opfer auch Selbsthilfe gab und andere Sinti und Roma den Betroffenen mit ihren Privatautos zur Flucht verhalfen, es also kein passives Erdulden gab, ist in der Öffentlichkeit bis dato nahezu unbekannt.

So fügen sich die fünf Aufsätze, von den jeweiligen Bildern ausgehend, zu einer Reflexion über Erinnern und Vergessen und die dahinter stehenden gesellschaftlichen Prozesse. Bedenkt man die seinerzeit von fast allen Parteien vorangetriebene Debatte über den »Asylbetrug«, die gewissermaßen den Humus des Pogroms bildete, wird deutlich, wie nah uns die Ereignisse von vor 33 Jahren in Rostock noch heute sind und wie wenig die Mehrheitsgesellschaft von ihnen weiß. Nimmt man sodann die mehr als 200 rassistischen Morde seit der sogenannten Wiedervereinigung hinzu, die Attentate des NSU, die Anschläge von Halle und Hanau usw. drängt sich der Eindruck eines Bankrotts der offiziellen Erinnerungspolitik auf. Lorenz’ Buch dokumentiert diesen en Detail.

Matthias N. Lorenz: Nachbilder. Rostock-Lichtenhagen und die blinden Flecken der Erinnerung. Mit einem Vorwort von Clemens Meyer. Schlaufen-Verlag, Berlin 2025, 201 Seiten, 22,50 Euro

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