»Verfassungsschutz beobachtet auch Kinder«
Interview: David Bieber
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, NRW, hat nach dem Messeranschlag in Solingen am 23. August 2024 beschlossen, die Befugnisse von Polizei und Inlandsgeheimdienst umfangreich zu erweitern. Wird der Datenschutz in NRW und bundesweit geschliffen?
Das beschlossene Sicherheitspaket und die Änderungen des Verfassungsschutzgesetzes in NRW stellen deutliche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte dar. Bundesweit sieht der Koalitionsvertrag mehr Befugnisse für Sicherheitsbehörden vor: Speicherpflicht für IP-Adressen, automatisierte Auswertung öffentlicher Daten und mehr Datenaustausch untereinander. Die Aufweichung des Datenschutzes geht darüber aber noch hinaus. Im Koalitionsvertrag wird der Datenschutzbegriff durch den der Datennutzung ersetzt. Somit geht es um die Kapitalisierung von Daten, also eine vereinfachte Nutzung sensibler Informationen durch Unternehmen.
Wie steht es um die Reform des Verfassungsschutzgesetzes in NRW?
Das aktuelle Gesetz stammt aus dem Jahr 1994 und wurde in den letzten Jahren lediglich an einzelnen Punkten neu gefasst. Der Gesetzentwurf ist dem Landtag zugeleitet, aber noch nicht beraten worden. Auch das Landesdatenschutzgesetz soll insoweit geändert werden, als es nach dem Vorbild des Bundesdatenschutzgesetzes eine Öffnungsklausel für den staatlichen Live-Zugriff auf Videoüberwachungsanlagen im öffentlichen Raum enthalten soll.
Mit welchen Befugnissen soll der Verfassungsschutz zusätzlich ausgestattet werden?
Im neuen Verfassungsschutzgesetz steht das Recht auf Funkzellenabfrage. Dabei werden nicht nur die Daten von Verdächtigen aufgenommen, sondern von allen Personen, die sich zufällig in der Nähe aufgehalten haben. Dem Verfassungsschutz wird zudem eingeräumt, auf Videoüberwachung im öffentlichen Raum zuzugreifen. Außerdem wird die Wohnraumüberwachung mit Ton und Bild ermöglicht. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Landesverfassungsschutzgesetz Bayern wurde anscheinend nicht verstanden. Dieses hatte klare Richtlinien zur Aufgabenabgrenzung zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgestellt. Kurz gesagt: Die Polizei soll bei konkreten Gefahren eingreifen, während die Geheimdienste Strukturen durchleuchten sollen, von denen eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgeht. Funkzellenabfragen und Live-Zugriff auf Videos sind aber klassische Befugnisse der polizeilichen Gefahrenabwehr, die beim Verfassungsschutz nichts zu suchen haben. Darüber hinaus werden der Einsatz von sogenannter künstlicher Intelligenz, KI, und die massenhafte Auswertung personenbezogener Daten ermöglicht. Dabei wird das Mindestalter zur Speicherung von 16 auf 14 Jahre heruntergesetzt. Es können dann selbst Informationen gesammelt werden, die vor Erreichen des Mindestalters entstanden sind. Der Verfassungsschutz beobachtet jetzt auch Kinder!
Welche Rolle spielt hier das Internet?
Strafbare Handlungen im Internet, wie Volksverhetzung oder Bedrohungen, müssen stärker verfolgt werden. Das wird aber problematisch, wenn Behörden bei Ermittlungen KI-Anwendungen nutzen. Wir wissen, dass etwa People of Color häufiger von der Polizei kontrolliert und daher auch häufiger aktenkundig werden. Wenn eine KI auf Polizeidaten trainiert wird, dann wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit besonders oft People of Color in den Fokus nehmen. Je nachdem, wie die Datenbasis trainiert wird, kann es passieren, dass die KI keine neutralen Entscheidungen trifft.
Was steht noch in Ihrem jüngst vorgestellten Datenschutzbericht?
Die Verwendung von KI stellt den Datenschutz vor neue Herausforderungen. Neben den Warnungen vor dem Sicherheitspaket der Landesregierung geht es auch um mangelnde Kooperation der Staatsanwaltschaft, wenn es um die Löschung der Daten von freigesprochenen Personen und die leichtfertige Weitergabe von Zeugendaten bei der Polizei geht.
Sonja Lemke ist Informatikerin und Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke
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