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Aus: Ausgabe vom 04.07.2025, Seite 7 / Ausland
Algerien

Schriftsteller im Labyrinth

Algerien: Weder Boualem Sansal noch das ihn verurteilende Gericht haben überzeugt
Von Sabine Kebir
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Der Fall Boualem Sansal hat in Frankreich hohe Wellen geschlagen und wird insbesondere von der Rechten instrumentalisiert (Paris, 19.6.2025)

Am Dienstag hat ein Berufungsgericht in Algier das Strafmaß von fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe für den frankoalgerischen Schriftsteller Boualem Sansal bestätigt, das am 24. Juni in zweiter Instanz verhandelt wurde. Der Gerichtssaal war überfüllt. Sansal konnte viele Freunde und Journalisten sowie seinen neuen französischen Anwalt begrüßen, der mit ihm beraten wird, ob ein Revisionsantrag an das oberste Gericht sinnvoll ist.

Viele algerische Juristen vermeiden, sich auf Fälle wie den von Boualem Sansal einzulassen, der im November bei der Einreise verhaftet worden war. Nicht nur Medienschaffende, sondern viele Algerier denken, dass seine in rechten französischen Medien gemachten Äußerungen von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Allerdings würden die meisten Sansals Behauptung, erst die französischen Kolonisatoren hätten die Grenze zwischen Algerien und Marokko festgelegt, nicht teilen. Hätte man den Schriftsteller nicht verhaftet, sondern zu einer Diskussion mit algerischen und französischen Historikern – zum Beispiel Benjamin Stora – geladen, wäre schnell geklärt worden, dass die freien Stämme Westalgeriens vor der französischen Kolonisierung nicht im Einflussgebiet der marokkanischen Monarchie, sondern des osmanischen Dey von Oran lebten.

Diese Frage rührt tatsächlich an das Selbstverständnis der algerischen Nation. Und dass sie – aus der Sicht des Staates – überhaupt so brisant werden konnte, lag an der aktuell überbordenden antialgerischen Kampagne, die die französische Rechte entfesselt hat, seit Präsident Emmanuel Macron im August 2024 die völkerrechtswidrigen Ansprüche Marokkos auf die Westsahara anerkannte, womit er sich sogar gegen eine offizielle Position der EU wandte. Die noch immer zahlreichen Nostalgiker des Algérie Française ergriffen die Gelegenheit, den Kolonialismus mit der Behauptung aufzuwerten, dass Algerien überhaupt nur ihm seine Existenz verdanke. Diese Argumentation, die mit immer wieder geäußerten Ansprüchen des marokkanischen Königreichs auf Westalgerien korrespondiert, können Normalbürger als absurd falsch abtun. Aber sowohl der algerische Staat als auch die fünf Millionen Menschen mit algerischen Wurzeln, die in Frankreich leben, sehen sich seit einem Jahr einer Hasskampagne ausgesetzt, die seit der 1962 errungenen Unabhängigkeit nicht ihresgleichen hatte. Obwohl Macron versucht, die Wogen zu glätten, erfindet sein Innenminister Bruno Retailleau immer wieder neue Schikanen gegen algerische Einwanderer. Und rechte Medien fahren Kampagnen gegen den Staat Algerien so stark hoch, dass ein vollständiger Abbruch der diplomatischen Beziehungen nicht ausgeschlossen scheint.

Sansal wurde hauptsächlich wegen der geistigen »Verletzung der nationalen Einheit« und »gezielter Verbreitung von Falschinformationen, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden können«, verurteilt. Ein Schriftsteller muss aber kein Historiker sein und kann sich auch in politischen Labyrinthen verirren.

Die Vorwürfe passen auch nicht gut in einen Gerichtssaal. Das hatten am 25. Juni sowohl das Gericht als auch der Angeklagte vorgeführt. So wurden ihm Kontakte zu rechten Politikern angekreidet, und man hielt ihm vor, dass er in französischen Medien Algerien ironisiert und beleidigt habe. Wenn Sansal nicht nur auf seiner Meinungsfreiheit bestand, sondern auch behauptete, dass das Gericht der »Literatur« den Prozess mache, erschien das pathetisch und zu weit hergeholt. Denn es ging keineswegs um seine Bücher. Gefragt, ob er an seiner Auffassung über die Westgrenzen Algeriens festhalte, berief er sich auf die Einheit des berberischen Maghreb, behauptete aber weiterhin, dass einst »Frankreich beschlossen hat, die algerischen Grenzen zu schaffen«.

Die französische Regierung bat um Sansals Begnadigung durch Präsident Abdelmadjid Tebboune, der schon öfter die vorzeitige Freilassung politischer Gefangener veranlasst hat. Für Sansal könnte sich das bereits am 5. Juli verwirklichen, wenn Algerien den Jahrestag der Unabhängigkeit feiert.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (4. Juli 2025 um 09:24 Uhr)
    Man kann nur rätseln, warum sich die junge Welt immer wieder für Boualem Sansal so ins Zeug wirft. Sansal hat sich vor allem mit Antiislamismus einen Namen gemacht. Genauso wie Salman Rushdie, der mit seinem »Satanischen Versen« für Unfrieden in der islamischen Welt gesorgt hat, erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In einer Zeit, in der die Völker in muslimisch geprägten Ländern unter der Aggression der Imperialisten leiden, werden solche Kronzeugen gebraucht und im Westen mit Preisen überhäuft. Sansal warnt unermüdlich vor der »Weltherrschaft des Islamismus«. Sein Buch »2084« (augenfällig der verkaufsfördernde Bezug zu »1984« des Antikommunisten Orwell) wurde in Frankreich für acht Literaturpreise nominiert und mit dem Preis der Académie Française ausgezeichnet. In der Bildunterschrift heißt es wieder mal, Boualem Sansal würde von Frankreichs Rechten instrumentalisiert. Muss man einen Schriftsteller, der sich nicht zu schade ist, einer rechten französischen Zeitung ein Interview zu geben und sich zum Kronzeugen für die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko macht, noch instrumentalisieren? Sabine Kebir widerspricht sich, wenn sie einerseits schreibt: »Diese Frage [Westsahara] rührt tatsächlich an das Selbstverständnis der algerischen Nation (…) sowohl der algerische Staat als auch die fünf Millionen Menschen mit algerischen Wurzeln, die in Frankreich leben, sehen sich seit einem Jahr einer Hasskampagne ausgesetzt, die seit der 1962 errungenen Unabhängigkeit nicht ihresgleichen hatte«. Doch dann bekommt Sansal, der zu dieser Hasskampagne seinen Beitrag leistete, praktisch einen Freibrief: »Ein Schriftsteller muss aber kein Historiker sein und kann sich auch in politischen Labyrinthen verirren. Die Vorwürfe passen auch nicht gut in einen Gerichtssaal«.

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