Win-win für BRD
Von Reinhard Lauterbach
Im Ukraine-Krieg sind zwischen Dezember 2024 und Mai 2025 nach UN-Angaben 968 Zivilisten getötet und 4.807 verletzt worden. Das bedeute »eine erhebliche Steigerung« von 37 Prozent gegenüber dem durch den vorherigen Halbjahresbericht abgedeckten Zeitraum, schrieb das UN-Menschenrechtskommissariat in einer Mitteilung vom Montag. Die Mehrzahl der Opfer – die »vor allem auf Angriffe der russischen Streitkräfte zurückzuführen« seien – wurden in den durch die Kiewer Regierung kontrollierten Gebieten registriert, wo auch die Daten für die Studie erhoben wurden. Gewarnt wird vor einer Zunahme ziviler Opfer und schwerer Menschenrechtsverletzungen – besonders durch den vermehrten Einsatz von Kurzstreckendrohnen.
Nicht in den Bericht eingeflossen sind demnach Vorfälle wie jener vom vergangenen Wochenende: ein mutmaßlicher Raubmord an einer Familie im frontnahen Gebiet Pokrowsk. Dort drangen nach Angaben von Nachbarn in sozialen Netzwerken im Dorf Grischino »Bewaffnete in Uniform« – ein Synonym für ukrainische Soldaten – in ein Wohnhaus ein, erschossen Mutter und Sohn und raubten die Kasse von dessen kleiner Autowerkstatt, bevor sie auch das Auto mitnahmen. Das Fahrzeug wurde 200 Kilometer hinter der Front gefunden. Bewohner des Donbass haben nach der Eroberung ihrer Wohnorte durch Russland häufig über Plünderungen von seiten ukrainischer Soldaten geklagt.
Und es kommt offenbar regelmäßig zu Misshandlungen von Gefangenen. Fast alle der 117 durch die UNO befragten ukrainischen und gut die Hälfte von 95 befragten russischen Gefangenen berichteten über Prügel, sexualisierte Gewalt oder deren Androhung und andere Erniedrigungen in Gefangenenlagern. Mindestens 35 ukrainische und ein russischer Gefangener seien ohne Gerichtsurteil hingerichtet worden. Dessen ungeachtet hat Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) bei seinem aktuellen Besuch in Kiew versichert: »Die Freiheit und Zukunft der Ukraine ist die wichtigste Aufgabe unserer Außen- und Sicherheitspolitik.« Im Schlepptau hochrangige Vertreter deutscher Rüstungskonzerne. Denn hier sieht Wadephul »eine Win-win-Situation« für die Waffenschmieden in beiden Ländern. Eine Zusage zur Lieferung weiterer deutscher Flugabwehrsysteme vom Typ »IRIS-T« erhielt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij allerdings nicht. Sechs dieser Systeme wurden bereits geliefert, zehn weitere in Aussicht gestellt.
An der Front hat die Ukraine seit Beginn dieser Woche ihre Angriffe auf Ziele in Russland und im Donbass intensiviert. Erstmals seit längerer Zeit wurde wieder die Innenstadt von Donezk beschossen. Dabei kamen seit Montag mindestens drei Personen ums Leben. Weitere Opfer gab es bei ukrainischen Angriffen auf Ziele in Russland selbst. Reagiert hat Kiew damit vermutlich auf die nach eigenen Angaben größte Attacke aus der Luft seit Kriegsbeginn, die Russland am Wochenende durchgeführt hatte. Dabei waren rund 500 Drohnen und mehrere Dutzend Raketen verschiedener Typen abgefeuert worden, die nur zum Teil abgefangen wurden. Zerstört oder stark beschädigt wurden offenbar zumindest zwei Raffinerien: eine in Drogobitsch im Westen der Ukraine und eine in Krementschug am Dnipro.
Unterdessen meldete der Gouverneur von Lugansk, Leonid Passetschnik, am Dienstag: »Das Territorium der Volksrepublik Lugansk ist vollständig befreit – 100 Prozent.« Die Region hatte schon seit Kriegsbeginn weitestgehend unter russischer Kontrolle gestanden. Es ging zuletzt um wenige Quadratkilometer an der Grenze zum benachbarten Gebiet Charkiw. Südlich davon, im Bezirk Donezk, näherten sich russische Truppen offenbar an weiteren Stellen der Grenze zum Gebiet Dnipropetrowsk. Ob die Kämpfe bereits auf die Nachbarregion übergegriffen haben, wird von beiden Seiten unterschiedlich dargestellt. Unbestritten ist dagegen, dass russische Truppen am Südende der Front im Bezirk Saporischschja zum Angriff übergegangen sind und einen taktisch wichtigen Höhenzug bei der Ortschaft Kamenskoje am ehemaligen Stausee von Kachowka erobert haben. Von dort aus sind sie nach ukrainischen Angaben in der Lage, die Gebietshauptstadt Saporischschja und ihr gesamtes südliches Vorfeld mit konventioneller Artillerie zu beschießen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (1. Juli 2025 um 21:59 Uhr)Die »Freiheit und Zukunft der Ukraine« sei unsere außenpolitische Hauptaufgabe? Warum? Die Ukraine ist weder Bündnispartner noch Mitglied der EU oder NATO – und Deutschland hat keinerlei völkerrechtliche Verpflichtung gegenüber Kiew. Was wir stattdessen erleben: massive Aufrüstung, eine wachsende Verstrickung in einen endlosen, belastenden Krieg und eine Politik, die uns Rüstungsexporte als »Win-win-Situation« verkauft. Es ist höchste Zeit, dass sich die deutsche Außenpolitik wieder am deutschen Interesse orientiert – und sich nicht in fragwürdige geopolitische Abenteuer stürzt, deren Nutzen niemand schlüssig erklären kann.
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