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Aus: Ausgabe vom 30.06.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Ukraine-Krieg

Land der Schnäppchen?

Russlands Regierung bietet Steuervorteile für Investitionen in die ehemals ukrainischen Regionen. Problem: Wer zahlt für Kriegsschäden?
Von Reinhard Lauterbach
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Wiederherstellung der Fassade des Drama-Theaters in Mariupol (17.6.2025)

Kommen Sie, »bevor es zu spät ist! Wer jetzt noch zögert, wird es später bedauern.« Russlands Vizeregierungschef Marat Chusnullin trat auf dem Petersburger Wirtschaftsforum im Juni auf wie ein Schnäppchenhändler auf einem deutschen Wochenmarkt. Seine Ware: der Wiederaufbau der von Russland übernommenen ehemals ukrainischen Regionen, das sogenannte »Neurussland«. Chusnullin ist in der russischen Regierung zuständig für diesen Wiederaufbau. Er hat dieses Amt 2023 angetreten und verwaltet seitdem die zweistelligen Milliardenbeträge, die aus dem russischen Staatshaushalt in die neuen Regionen fließen. Es handelt sich um etwa 50 Milliarden Euro, die in den vergangenen Jahren dort investiert worden sind: vorwiegend wohl in Infra­strukturprojekte. So ist kürzlich eine neue Eisenbahnstrecke von Rostow am Don über Taganrog entlang der Küste nach Mariupol eröffnet worden, um die alte, durch das Donbass führende Strecke zu entlasten – natürlich auch im Interesse des Nachschubs für die Front und der Versorgung der Krim, ohne auf die ständig von ukrainischen Anschlägen bedrohte Brücke über die Meerenge von Kertsch angewiesen zu sein.

Wie weit dieser Wiederaufbau fortgeschritten ist, wird naturgemäß auf beiden Seiten der Kriegsfront unterschiedlich dargestellt. Nach russischen Angaben sind allein für den Wiederaufbau des schwer kriegszerstörten Mariupol 35.000 Bauarbeiter in die vor dem Krieg von einer halben Million Menschen bewohnte Stadt geschickt worden. Videos aus der Stadt zeigen die üblichen Bilder des Stadtmarketings: frischgestrichene Häuser, Blumenrabatten, moderne Straßenbahnen und gut gefüllte Märkte – zu denen allerdings russische User angemerkt haben, dass dort höhere Preise verlangt würden als in Moskau. Aber Piotr Andrusieczko, Berater des früheren ukrainischen Bürgermeisters der Stadt und heute Direktor eines ukrainischen »Zentrums zur Erforschung der Okkupation«, bemängelte kürzlich gegenüber dem Warschauer Portal oko.press, dass nur ein Bruchteil der in den Kämpfen zerstörten Bausubstanz wiederhergestellt worden sei. Und das vielfach nach der Methode des Grafen Potemkin: Fassaden neu gestrichen, Fenster und Türen ersetzt – aber nichts dahinter. Auch lebten heute nur noch etwa halb so viele Menschen in Mariupol wie vor dem Krieg: vielleicht 250.000. Und von denen seien Zehntausende auf ihre Datschen gezogen oder bei Verwandten untergekrochen. Ähnliche Zahlenverhältnisse gibt Andrusieczko für die Stadt Donezk an: Die russische Statistik der Steuereingänge zeige, dass dort noch maximal eine halbe Million Menschen lebe; vor dem Krieg war es eine knappe Million.

Andrusieczko beschrieb, wie die russischen Behörden mit Hypotheken zu Vorzugskonditionen neue Bewohner nach Mariupol zu locken versuchten. Dass er das mit finsteren Plänen Russlands zur Änderung des ethnischen Profils der Bevölkerung in Verbindung brachte, ist geschenkt. Aber dass Russland die Ansiedlung in den neuen Regionen enorm subventioniert, deckt sich mit den an Unternehmer gerichteten Appellen von Vizepremier Chusnullin auf dem Petersburger Wirtschaftsforum. Was dem Privatmenschen der billige Baukredit ist, soll für Unternehmensansiedlungen ein ganzes Bündel von Steuererleichterungen leisten: Befreiung von Bundessteuern auf 30 Jahre, zehn Jahre Befreiung von der betrieblichen Vermögenssteuer, drei Jahre Grundsteuerbefreiung.

Aber es gibt offenbar ein enormes Hindernis für private Investitionen: den anhaltenden Krieg. Wenn eine ukrainische Rakete in einem Moment zerstören kann, wofür ein Unternehmer eigenes Kapital investiert hat, ist das wenig attraktiv. Der Gouverneur des russischen Teils der Region Sapo­rischschja, Jewgen Balizkij, beklagte auf der Petersburger Konferenz, dass das Gesetz über die Kriegsschädenversicherung noch immer nicht verabschiedet worden sei. Kunststück. Jede Versicherung der Welt schließt Krieg und andere Formen »höherer Gewalt« aus ihren Zahlungsverpflichtungen aus. Dass Balizkij eine solche Kriegsschadenversicherung als Voraussetzung für Investitionen verlangte, spiegelt einerseits das Bewusstsein, dass Russland, egal wie es den Krieg beendet, auf keinerlei Reparationen rechnen kann. Es würde also darauf hinauslaufen, dass der Staat dieses Risiko übernehmen und den Unternehmen die Schäden ersetzen müsste. Es bewahrheitet sich die alte Investorenweisheit, dass es »kein kostenloses Mittagessen gibt«, so sehr auch Chusnullin den Marktschreier machte. Ohne ein Ende des Krieges ist mit einem geordneten Wiederaufbau und einer ökonomischen Inwertsetzung der neugewonnenen Regionen für Russland nicht zu rechnen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (30. Juni 2025 um 11:43 Uhr)
    Ich schätze die Artikel von Herrn Lauterbach sehr. Aber bei diesem wäre wohl mehr Faktenrecherche angebracht. Was wäre die Alternative für Russland? Erst mal abwarten und nix tun? Es spricht für Russland, dass es das nicht tut. Meine Fragen: Wer baut auf, woher kommt das Baumaterial? Werden Produktionsstätten im Donbass für den Wiederaufbau genutzt? Sind Fenster und Putz an den Wänden unwichtig? Wie verhält es sich mit der Einwohnerschaft tatsächlich? Dass Investoren gewonnen werden sollen, ist nachvollziehbar. Dass die Preise höher sind, ist auch nicht verwunderlich. In einer idealen Welt ist alles unproblematisch …
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (30. Juni 2025 um 07:15 Uhr)
    Kernaussage des Artikels: Es ist nicht einfach, mitten in einem Krieg einen Wiederaufbau zu beginnen. Welch eine Erkenntnis! Warum dazu ein international bekannter »Asow«-Unterstützer zitiert werden muss, erschließt sich nicht wirklich. Das Niveau dieser Zeitung, die sich noch immer fälschlich auf Marx beruft, befindet sich in rapidem Sinkflug. Da braucht es keinen VS mehr.

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