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Aus: Ausgabe vom 24.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Der Dreck ist schlimm genug

Annett Gröschners Roman »Schwebende Lasten« über das Leben der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause
Von Werner Jung
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Das Große im Kleinen: Annett Gröschner

In einer Art Vorspruch für ihren Roman »Schwebende Lasten« fasst Annett Gröschner auf einer knappen Seite zusammen, worum es auf den folgenden 280 Seiten geht: »Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Berlin der frühen 30er Jahre nie aus Magdeburg herauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende.« Die Geschichte dieser gewöhnlichen Arbeiterin, deren Mann nach einem Arbeitsunfall ein Bein verliert und die dann, nachdem sie schon zuvor ihren Blumenladen hat aufgeben müssen, in der DDR noch zwei Jahrzehnte als Kranfahrerin tätig ist, um, wie es in der letzten Zeile heißt, rechtzeitig zu sterben, »bevor sie die Welt nicht mehr versteht«.

Das klingt nicht nur nach einer deftigen Anleihe bei Alfred Döblins Jahrhundertroman »Berlin Alexanderplatz«, der seinem Text ebenfalls einen knapp anderthalbseitigen Vorsatz vorangestellt hat, sondern ist es auch: »Dies Buch berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin. Er ist aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorfälle saß, entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein.« Allerdings klingt es bei Döblin im Stil eines Moritatensängers, der nicht nur eine schauerliche Geschichte erzählt, sondern zugleich eine Art moralischer Lehre damit vermitteln möchte: »Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot.«

Annett Gröschner erzählt aber nicht von der hektischen Großstadt, statt dessen unaufgeregt von den verschiedenen Lebensstationen ihrer Protagonistin. Eine besondere Stärke der Autorin ist es, einen gewöhnlichen, unauffälligen Alltag zu beschreiben. Eine der schwierigsten Aufgaben literarischer Kunst, wie schon Gustave Flaubert feststellen musste. Unterhalb der »großen Geschichte« liegen die vielen kleinen, gleichwohl existentiell berührenden Geschichten. Die Zeitenläufe beeinflussen zwar auch das Leben der Hanna Krause, doch die alltäglichen Kämpfe ums Überleben der Familie, das Zurückstellen der eigenen Ansprüche, das beständige Sich-kümmern-Müssen und das Ringen um rudimentäre Bedürfnisbefriedigung dominieren alles.

Seit frühesten Jahren begegnet Hanna Krause Uniformträgern und anderen Autoritäten skeptisch bis ablehnend. Spätestens mit verheerenden Kriegserlebnissen und der Bombardierung Magdeburgs verliert sie noch das letzte Fünkchen Glauben: »Wer zulässt, dass eine Kirche über Schutzsuchenden einstürzt, kann kein gerechter Gott sein.« Hanna, diese einfache proletarisch-kleinbürgerliche Frau, die ihren geliebten Blumenladen aufgeben muss, die in der DDR schließlich noch bis zur Verrentung zwanzig Jahre als Kranführerin arbeitet – sie lebt und liebt mit gesundem Menschenverstand. Was auch bedeutet, dass sie an alle Dinge des Lebens spontan materialistisch bzw. ideologiekritisch herangeht, wenn wir einmal Georg Lukács bemühen wollen. So weigert sie sich etwa konstant, sich von einem durch die Partei beauftragten Maler porträtieren zu lassen, nachdem sie »Aktivistin« geworden ist: »Es sei schlimm genug, in diesem Dreck arbeiten zu müssen, da brauche sie kein Erinnerungsbild. Und wenn es noch so beschönigt sei. Der Maler solle sich lieber mit Pflanzen beschäftigen. So ein richtig schönes buntes Blumenbild, das wäre doch eine Freude. (…) So mürrisch Hanna in diesem Moment dreinblickte, hatte sie durchaus all das zu bieten, aber sie ließ sich nicht erweichen, auch nicht durch Drohungen. Der Maler musste sich eine andere Aktivistin suchen. Hanna weigerte sich ebenso standhaft, in die Partei einzutreten.«

Humorvoll, teilweise wirklich witzig, dabei mit scheinbar leichter Hand (was bekanntermaßen am schwersten ist) erzählt Gröschner eindrücklich ein Leben, in dem sich die »große Geschichte« des 20. Jahrhunderts in vielen »kleinen Geschichten« spiegelt.

Annett Gröschner: Schwebende Lasten. Verlag C. H. Beck, München 2025, 282 Seiten, 26 Euro

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