Die Atombombenlüge
Von Norman Paech
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe auch die neue deutsche Regierung mit Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) den Völkermord in Gaza genauso wie nun die Angriffe Israels und der USA auf Iran mit der Verteidigung Israels rechtfertigt. Seit rund 30 Jahren versucht Benjamin Netanjahu, die US-Regierung in einen Krieg gegen Iran hineinzuziehen. Dazu dient die immer gleiche Erzählung, dass Iran an einer Atombombe baue, um Israel zu vernichten. Nun hat der israelische Premier mit seinem Angriff auf Iran Präsident Donald Trump die Möglichkeit gegeben, auch sein lang gehegtes Ziel zu erfüllen: Das seit 1979 abtrünnige Land wieder einzufangen und unter die US-amerikanische Vormacht im Mittleren Osten zu zwingen. Vom Völkerrecht ist da schon gar nicht mehr die Rede, man habe »Verantwortung übernommen«, heißt es ebenso schlicht wie präsidial.
»Dass in der Politik gelogen wird, ist nicht neu«, schrieb Moshe Zuckermann jüngst mit Blick auf den Gazakrieg. »Die Lüge liegt in ihrem Wesen«. Dies gilt auch für die Angriffe auf Iran, die allein mit seinem Atomprogramm begründet werden. Allerdings hatte der damals scheidende Direktor der CIA, William Burns, schon am 10. Januar 2025 gesagt, dass er keine Anzeichen für eine Abkehr von der Fatwa des »Obersten Führers« Ali Khamenei sehe, die im Jahr 2003 festlegte, keine Atombombe zu bauen. Diese Einschätzung wurde fast wörtlich im diesjährigen »Annual Threat Assessment« der »Intelligence Community«, also der insgesamt 18 Geheimdienste der USA, wiederholt. Niemand, auch nicht die Inspektoren der Atomenergiebehörde, legten seitdem andere Erkenntnisse oder Beweise für einen unmittelbar bevorstehenden Bau der Bombe, geschweige denn ihren Einsatz, vor. Doch die Bombe war und ist nur die Lüge, um den gewollten Regime-Change – sei es nach dem Modell Irak, Libyen oder Syrien – zu verschleiern.
Dieser Regime-Change ist nicht aufgegeben. Der von Trump dekretierte Waffenstillstand von Dienstag morgen bedeutet noch lange keine Sicherheit, dass Netanjahu Ruhe gibt und der US-Präsident die offensichtliche militärische Schwäche Irans nicht doch noch nutzt, um den Sturz der Regierung in Teheran mit Waffen zu erzwingen. 2007 hatte der damalige Präsident George W. Bush das schon einmal versucht, es ging aber daneben. Damals heizten die Falken im Kongress die Debatte um »die iranische Nukleargefahr« an. Bush erklärte im Oktober desselben Jahres auf einer Pressekonferenz, wenn man einen dritten Weltkrieg und einen »nuklearen Holocaust« verhindern wolle, müsse man Iran unverzüglich daran hindern, die Bombe zu bauen. Die Vorbereitungen für einen Militärschlag gegen Iran waren getroffen.
Doch im November 2007 berichteten ihm seine Geheimdienste – damals insgesamt 16 – , dass Iran keine Atombombe baue, Teheran habe schon 2003 sein Atomprogramm gestoppt. Dieser Bericht drohte, da er an die Öffentlichkeit gelangte, die Militärstrategie Präsident Bushs zu durchkreuzen, er war hochgefährlich. Also musste Bush reagieren. Er schrieb dazu 2010 in seinen Memoiren »Decision Points«: »Einen großen Teil des Jahres 2008 verbrachte ich damit, die diplomatische Koalition gegen Iran wieder aufzubauen, wir schafften es auch, eine neue Runde von UN-Sanktionen zu bekommen […]. Außerdem dehnten wir unseren Raketenschild aus, darunter ein neues Raketensystem mit Stützpunkten in Polen und der Tschechischen Republik, um Europa vor einem iranischen Angriff zu schützen.«
Hätte der Iran bereits eine Atombombe, wäre es jetzt bestimmt nicht zu diesen schweren Angriffen gekommen. Schon 1999 nach dem Überfall der NATO auf Jugoslawien hatte die VR China gefährdeten Staaten geraten, sich Atomwaffen anzuschaffen, um vor solchen völkerrechtswidrigen Angriffen abgesichert zu sein. Das Völkerrecht ist offensichtlich nicht in der Lage, vor den Überfällen hochgerüsteter Großmächte zu schützen. Seit Jahrzehnten versuchen diese, das absolute Gewaltverbot des Artikels 2 Absatz 4 UN-Charta mit der Überdehnung des Verteidigungsrechts nach Artikel 51 UN-Charta zu relativieren. 2002 führte Bush das neue Präemptivkonzept ein, bekannt als Bush-Doktrin, das in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« vom September 2002 offizielle Gestalt annahm. Im Dezember 2003 wurde es in die »Europäische Sicherheitsstrategie« übernommen. Die darin verankerte »vorbeugende Verteidigung« soll schon dann möglich sein, wenn noch gar kein Angriff vorliegt. Bekanntestes Beispiel ist der Überfall auf Bagdad durch die USA 2003.
Nicht das Völkerrecht ist das Problem und die Schwachstelle des Gewaltverbots, sondern die aggressiven Interessen von Regierungen mit internationalem Herrschaftsanspruch sind es. Ihnen kommen ideologische Angebote etwa eines »wertegebundenen konstruktiven Völkerrechts«, einer »Offenheit für präventive Strategien« oder des »Vorrangs der politischen Legitimität vor der Legalität« und der Warnung vor einer »Überbewertung des Wortlauts« zu Hilfe, die selbst in der Völkerrechtswissenschaft Platz greifen. Und Trumps Rechtsnihilismus macht Schule. Ohne sein robustes Auftreten hätte wohl auch Friedrich Merz seine offensichtliche Verachtung für die internationale Justiz (Haftbefehl gegen Netanjahu) und das Völkerrecht (»Drecksarbeit«) nicht so demonstrativ zur Schau gestellt. Dieses sind keine guten Signale für die seit längerer Zeit geplante und vorbereitete militärische Konfrontation mit der VR China.
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