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Aus: Ausgabe vom 23.06.2025, Seite 8 / Inland
Bundesaufnahmeprogramm-Kehrtwende

»Einige würden sich lieber umbringen, als zurückzugehen«

2.400 schutzbedürftige Afghanen warten auf Visa, die der Staat versprochen hatte und nun zurückzieht. Ein Gespräch mit Eva Beyer
Interview: Gitta Düperthal
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Afghanen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, treffen wieder in Kabul ein (15.12.2016)

Am Weltflüchtlingstag wurden 25 Klagen von gefährdeten Afghanen gegen das Auswärtige Amt beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht. Ziel ist, dass Visa im Rahmen der Bundesaufnahmeprogramme erteilt werden. Wie geht das vor sich?

Bis Freitag nachmittag bestätigten uns Anwälte, dass die Eilverfahren anhängig sind. Zuvor hatten wir die Anfragen von Personen, mit denen wir in Pakistan in Kontakt sind, an sie weitergereicht. Derzeit warten dort etwa 2.400 Menschen auf Visa: 297 Personen aus dem Ortskräfteverfahren, 70 von der Menschenrechtsliste, 772 aus dem Überbrückungsprogramm und knapp 1.250 aus dem Bundesaufnahmeprogramm. Vor kurzem waren es noch 100 mehr, denen die Bundesregierung die Aufnahmezusage entzog. Für die Menschen ist das dramatisch. Innerhalb von wenigen Tagen mussten sie die Gästehäuser in Pakistan verlassen, sitzen jetzt auf der Straße. Aufgrund der langen Wartezeit sind mitunter Papiere abgelaufen: Sie befinden sich illegal in Pakistan.

Wie kommt es zur Rücknahme von Zusagen?

Die erneuten Prüfungen laufen sehr intransparent ab. Mitunter teilt die staatliche Entwicklungshilfeorganisation GIZ ohne Angabe von Gründen mit, die Aufnahme sei zurückgezogen. Wir hoffen, mit den Klagen schnell genug zu sein, bevor die Bundesregierung weiteren Menschen Visa entzieht.

Welche Chancen sehen Sie?

Die Zusage zu verweigern ist absurd. Eine afghanische Wissenschaftlerin und Schriftstellerin mit einer gültigen Aufnahmezusage der Bundesregierung hat bereits am 12. Mai Klage und Eilantrag eingereicht. Wir hoffen, dass sie Recht bekommt, damit eine Signalwirkung für andere Fälle ausgeht.

Das Bundesinnenministerium prüfe fortgesetzt, bis dahin sei die Aufnahme ausgesetzt, heißt es. Man stehe im Austausch mit den Behörden in Pakistan. Beruhigt das?

Nein. Das heißt, dass das Innenministerium seinen eigenen Unterabteilungen nicht traut, die alle Einzelfälle bereits überprüft hatten. Wir befürchten, dass mit der Absicht verzögert wird, Zusagen wieder zurückzuziehen. Angesichts der Lage, in der sich diese Menschen befinden, ist das unverantwortlich: Seit April hat Pakistan etwa 200.000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Seit Juli 2024 gibt es weder Aufnahmeverfahren noch Interviews. Zuständige Botschaftsmitarbeiter wurden abgezogen. Seit 8. Mai stehen die Visaverfahren komplett still.

Was macht das mit den Betroffenen?

Ich weiß von Menschen, die in Afghanistan Monate gefangen gehalten und gefoltert wurden; von Frauen, die vergewaltigt wurden. Der Europäische Gerichtshof hat afghanische Frauen als schutzbedürftig anerkannt, da sie von den Taliban systematisch unterdrückt werden. Individuelle Abstufungen bei der Dramatik der Verfolgungssituation gibt es. Einige würden nach einer Abschiebung vermutlich nicht überleben, andere sich lieber umbringen, als zurückzugehen.

Kanzleramtschef Thorsten Frei, CDU, sagte laut dpa: Im wesentlichen gehe es um ein Bundesaufnahmeprogramm für Menschen, »die gar keinen unmittelbaren Bezug zu Deutschland haben«.

Mangelndes Kurzzeitgedächtnis! Vor vier Jahren, als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, hieß es aus der CDU, wie notwendig es sei, Menschen aufzunehmen, die dort die Demokratie geschützt haben. Aktivistinnen, Politikerinnen, Journalistinnen, Richterinnen etc. wirkten mit, ein demokratisches Land aufzubauen. Die BRD versprach, diesen Menschen den Rücken freizuhalten. Weil der politische Wind sich hier gedreht hat, will man davon nichts mehr wissen.

Was war bei den Protesten vor dem Auswärtigen Amt in Berlin los?

Wir hatten eine Flugzeugtreppe dabei, die symbolisch ins Nichts führt, weil versprochene Evakuierungsflüge nicht stattfanden. Ein als Kanzler Merz verkleideter Schauspieler zerriss ein Pappschild mit der Aufschrift »Versprechen«. Das Netzwerk Campact, das eine Petition für die Aufnahme mit etwa 100.000 Unterschriften gestartet hatte, unterstützte uns.

Eva Beyer ist politische Sprecherin der Initiative »Kabul-Luftbrücke«

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