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Aus: Ausgabe vom 18.06.2025, Seite 11 / Feuilleton
Film

Ein ganzes Leben

»Schwachkopfaffäre (Tale of a Meme)«: Alexander Tuschinskis subtiler Dokfilm darüber, wie ein Rentner zum Inbegriff des Hasskommentators gemacht wurde. Von Andreas Maier
Von Andreas Maier
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Die Menschen zur Geschichte: Stefan Niehoff und Familie

Der fränkische Rentner Stefan Niehoff steht am Mittwoch in Haßfurt wegen »Verbreitens von Erkennungszeichen von ehemaligen nationalsozialistischen Organisationen und Volksverhetzung« vor Gericht, weil er auf der Plattform X mehrere Memes geteilt hatte, in denen aktuelle politische Äußerungen, etwa der katholischen Kirche, mit Szenen aus der Nazizeit kommentiert werden. (jW)

Wohin hat uns der Wind getrieben? Gehen wir zurück in die ganz muffige und spießige Zeit, sagen wir Mitte der Achtziger. Kohl Kanzler! Noch keiner der Unsrigen hatte sich an ihn gewöhnt. Es gab einen Klaus Bednarz, einen Gerd Ruge und andere, man war durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Tageszeitungen und die Wochenzeitschriften immerhin noch einigermaßen rundherum informiert.

Die Affäre um Stefan Niehoff wäre damals vollkommen anders an die Öffentlichkeit gekommen. Wer ist Stefan Niehoff? Das wissen Sie nicht? Das ist der Mann, der eine satirische Bemerkung über Robert Habeck »geteilt« hat, wie es in diesen heutigen sprachverqueren digitalen Zeiten heißt.

Zur angeblichen Mief-Muff-Zeit wäre die Geschichte in den Medien völlig anders abgelaufen. Hätte irgendwer mitbekommen, dass ein Bundesminister sich herausgenommen hätte, einen Bundesdeutschen wie Niehoff für das anzuzeigen, was dieser »getan« habe, dann hätte das ein absolutes Skandalpotential gehabt. Sofort hätten sich die Politikmagazine ebenso wie das betreffende Regionalprogramm darum gerissen, der Sache nachzugehen, das Opfer in Beiträgen zu porträtieren, ihm ein Gesicht und eine Stimme zu geben, den Skandalminister anzugreifen, zu desavouieren und das Vorkommnis als Beispiel von Verkommenheit innerhalb des Politikbetriebs zu brandmarken. Innerhalb kürzester Zeit hätte man einen der damals üblichen 45-Minuten-Berichte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesehen, und dieser hätte selbstverständlich nur einen Tenor gehabt: pro Niehoff und contra Anzeigeminister. Robert Habeck hätte damals binnen weniger Tage sein Amt räumen müssen. Das war die Mief-Muff-Zeit, so war das damals!

Heute kann man immerhin noch solche Filme drehen. Sie werden natürlich nicht mehr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gezeigt und laufen daher leider fast komplett unter dem Radar. In diesem Funk heißt Stefan Niehoff hauptsächlich »Rentner«, in der offiziellen Berichterstattung bleibt unerwähnt oder wird von Nebelkerzen verunklart, welche seltsamen Schriftsatzänderungen bezüglich des Hausdurchsuchungsbefehls von amtlicher Seite vorgenommen wurden, wie der betreffende Bundesminister Habeck urplötzlich von den klassischen Medien aus der Schusslinie herausgenommen wurde und der »Rentner« plötzlich als »antisemitisch« und »rechtsextremistisch« dastand – eine Behauptung, die später selbst die Süddeutsche Zeitung widerlegte. Dazu wurden Fotos gezeigt, die einen anscheinend hassverzerrten üblen alten Mann zeigen. Fotos, wie man sie von jedem von uns finden kann, man muss das alles nur in den richtigen Rahmen stellen. »Audacter calumniare« (»nur bloß keck verleumden!«) ist zur medialen und politischen Raison geworden, und so verbindet die wohlerzogene, demokratische und selbständige Öffentlichkeit den »Namen« Niehoff nun in ihrer üblichen Folgerichtigkeit »irgendwie« mit den Begriffen »Rentner«, »Antisemitismus« und »rechtsextrem«, aber niemand kennt das wahre, freundliche Gesicht Stefan Niehoffs, seine angenehme Stimme (es ist eine rar gewordene Freude, jemandem wie ihm zuzuhören), das Haus, das Leben, die Familie des Mannes, nichts, ein ganzes Leben kommt nicht vor, aber die besagten Begriffe werden wie Damoklesschwerter in aller Öffentlichkeit über Haus, Hof und Leben Niehoffs gehängt. Deutschland im Jahr 2024/25.

Und ja, es ist tatsächlich ein Film über Stefan Niehoff und seine Familie entstanden, wie er damals von den Öffentlich-Rechtlichen gedreht worden wäre, ein Film, den wir damals spätestens am dritten Tag der »Affäre« um 21 Uhr in der ARD gesehen hätten. Heute freilich muss man erst mal von dem Film wissen, um ihn sehen zu können. Im offiziellen Fernsehen wird er ebenso nicht erwähnt wie auch in der klassischen Tages- und Wochenpresse. Der Film heißt »Schwachkopfaffäre (Tale of a Meme)« und wurde gedreht von Alexander Tuschinski. Man findet ihn im Netz, aber natürlich, wie gesagt, nur, wenn man überhaupt von ihm weiß.

Tuschinskis Film erinnert ein wenig an die Vorstudien, die Edgar Reitz zu seinem berühmten Epos »Heimat« gedreht hat. Es ist eine völlig andere Welt als das, was man in den Sendungen von »Tagesschau« bis »Morgenmagazin« oder »Hessenschau« geboten bekommt. Keine »einfache« ländliche Welt, kein themenbezogenes Framing, in dem der »Dorfbewohner« zum vorausgewählten Thema fünfzehn Minuten interviewt wird, um auf zwei Sätze heruntergeschnitten zu werden, während selbst die Kühe im Hintergrund länger muhen dürfen, denn wir sind ja auf dem Land. Tuschinsksi, geboren 1988 und inzwischen schon langjähriger Filmemacher, kommt vielmehr zu den Dingen selber und geht mit großer Dezenz an die Sache, mit einem der heutigen Medienwelt fast völlig abhandengekommenen Feingefühl. Man kann ihm für dieses Projekt nur dankbar sein. Entstanden ist viel mehr als ein Film über eine »Affäre« oder über nur die Person hinter dem Namen »Niehoff« und der Bezeichnung »Rentner«. Der Film schildert eine ganze Gesellschaft und ein ganzes Leben, von der frühen Ehe über die Bundeswehr-Zeit bis hin zur Maueröffnung 1989 und dem damals beginnenden Aussterben der Dörfer und Städte. Er schildert auch die besagte Mief- und Muffzeit, die einem mit Tuschinkis Film rückblickend ganz anders vorkommt, verglichen mit heute. Tuschinski schildert ein Leben, das immer frei und unangegriffen war, anstrengend und mühevoll, aber dennoch voller Glücksfähigkeit. Mit dabei immer die Familie Niehoffs, auch sie über die Jahre miterzählt, und auch das eines Morgens irgendwann um sechs Uhr herum von der Polizei durchsuchte Haus während jenes Aktionstages gegen »Hass und Hetze im Netz« steht mit seiner Geschichte und Baustruktur auf kluge Weise im Fokus dieses stillen, schönen Films, der wie ein langer ruhiger Fluss daherkommt und von Hass und Hetze nichts weiß. Dieser Film ist völlig unaufgeregt, er klagt nicht an, auch nicht den betreffenden Minister. Er zeigt aber die Gesichter und gibt den Menschen ihre Stimme zurück. Auf dass wir uns selbst ein Bild machen können. Was könnte es Wichtigeres geben?

»Schwachkopfaffäre (Tale of a Meme)«, Regie: Alexander Tuschinski, BRD 2025, 43 Min., Youtube

Andreas Maier, geb. 1967, ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm 2025 der Roman »Der Teufel« (Suhrkamp-Verlag)

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