Das große Verlangen: Schmacht
Von Marc Hieronimus
Wenn Jugendliche heute ihren erheblichen Teil zur Amerikanisierung der Sprache Goethes und Engels’ beitragen, ist das anders als bei den etablierten Sprachstraftätern aus Medien und Kommerz nicht mehr nur aus Geltungssucht und Anbiederung an den großen Bruder aus Übersee – »Seht her, ich kann Denglisch« –, sondern zumindest auch aus Unkenntnis ihres eigenen Idioms. Man kann es ihnen nicht verdenken. Wie sollen Heranwachsende denn die Vielfalt und Präzision des Deutschen noch lernen, wenn ihnen schon morgens, bevor der Hirnkasten auf Touren kommt, noch vor der ersten verbalen Äußerung überhaupt bereits ein »Drink« neben die Cornflakes gestellt wird, wo man die Maisflocken doch mit einem Getränk, einem Trank oder einem Trunk aus Hafer oder Soja übergießen könnte?
Von den zahllosen sei ein weiteres, das leibliche Wohl betreffendes Beispiel herausgegriffen: Man hat jetzt »Cravings«, wo man früher an Hunger oder Kohldampf litt. Wie so oft, wenn es nicht gerade um einen konkreten Gegenstand wie beispielsweise einen Löffel geht, sind die Konzepte hinter dem deutschen und dem englischen Wort zugegebenermaßen nicht deckungsgleich, man kann auch Cravings nach Nichtessbarem wie einer Zigarette haben, aber dafür gibt es neben dem eher umgangssprachlichen »Gieper« (hauptstädtisch: Jieper) das charmante Wort Schmacht, das körperliches Verlangen nach Substanzen und darüber hinaus bezeichnet.
Schmacht kann uns bei einem Lied beschleichen, das Wohlklang mit je einer Prise Rührseligkeit und Pathos verzaubert (bzw. verkitscht, wenn der Koch noch ein Zauberlehrling ist). Bei cineastischen Schmachtfetzen und -festen aus dem Norden des amerikanischen Doppelkontinents kann man und nicht zuletzt frau geradezu dahinschmachten. Solch fachmännisch angerührte Rührstücke können emanzipatorisch sein. Denn was lernen wir aus den vergeigten Liebesgeschichten der Leinwandfiguren und unserem Mitgefühl? Dass wir in diesem lieblosen System gewaltige, auch nichtmaterielle Cravings und Bedürfnisse haben. Darum die Parole: »Keine Schmacht für niemand!«
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