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Aus: Ausgabe vom 07.06.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
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Sechs Jahre Spinoza bei vollen Bezügen

Über die Heldwerdung auf dem Felde und die jenseits der Büros
Von Thorsten Nagelschmidt
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»Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche« – Ernst Jünger

»Jede Glorifizierung eines Menschen, der im Kriege getötet worden ist, bedeutet drei Tote im nächsten Krieg.«

(Kurt Tucholsky)

Wie viele andere ging ich bis vor kurzem davon aus, wir lebten in postheroischen Zeiten. Statt dessen wird man auch in Deutschland Zeuge einer beunruhigenden Renaissance längst überwunden geglaubter Werte wie Tapferkeit, Kampfbereitschaft und Heldentum. Die aber, und das ist die Besonderheit, auf vielfältige Weise umgedeutet und ausgelagert werden. Ob bewusst oder unbewusst, das ist im Zweifel nicht kriegsentscheidend. Und damit wären wir auch schon beim Stichwort.

Spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 sind Heroismus, Nationalismus und Patriotismus wieder schwer angesagt, und das auch in Kreisen, die solchen Unappetitlichkeiten in der Vergangenheit tendenziell ablehnend gegenüberstanden. Denn ein wie auch immer gearteter Stolz auf Deutschland ging vielen, Sommermärchen hin oder her, nicht so leicht von der Zunge – es sei denn, man war konservativ, rechtsradikal oder Philipp Amthor. Ausgelagert an ein klar als Opfer zu identifizierendes Land wie in diesem Fall die Ukraine sieht das schnell anders aus. Da spricht man sogar wieder ganz arglos vom »Volk«; ein Begriff, den man sich immer noch und aus guten Gründen verkneift, wenn es um die Bewohner des eigenen Landes geht, welche meist eher als »die Bevölkerung« subsumiert werden, als »Mitbürgerinnen und Mitbürger« oder, hallo Merkel: »die Menschen«.

Der Internationale Karlspreis hingegen wurde im Jahr 2023 explizit an »Wolodimir Selenskij und das ukrainische Volk« verliehen, in seiner Rede sprach der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, von der »Hochachtung vor dem unbändigen Mut und dem ungebrochenen Stolz der Ukrainerinnen und Ukrainer«. Der Volksbegriff wurde auch in vielen weiteren diesen Preis begleitenden (und häufig vor Kriegskitsch nur so triefenden) Reden benutzt, denn hier hatten wir es endlich: das gute, tapfere Volk, an dessen Seite wir wohlstandsverwahrlosten Weicheier aus dem alten Westen uns allesamt größer, besser und bedeutsamer fühlen können. Und dessen kollektive Heldwerdung am besten auf dem Schlachtfeld geschieht.

»Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche«, so Ernst Jünger in seinem auf Tagebuchaufzeichnungen vom Einsatz an der Westfront basierenden und nach zahlreichen Überarbeitungen berühmt gewordenen Klassiker »In Stahlgewittern«, der 1920 erstmals als Buch erschien. Heute, mehr als hundert Jahre später, verkörpert sich das Heldenhafte immer noch besonders anschaulich in der Figur des Soldaten. Zumindest solange man nicht so genau hinsieht und die vielen Toten und Verwundeten ausblendet. Der Soldat wird glorifiziert. Und damit entmenschlicht. Der gute alte Abnutzungskrieg. Im Osten und Westen nichts Neues.

»Die Helden der Nationen, sie haben eines gemeinsam: Sie sterben nicht«, schreibt Elsa Koester in Der Freitag. »Menschen sterben, durch Krankheit oder Unfall. Ein Held aber fällt.« Helden gelten demnach nicht als Menschen, und genau das ist wichtig im Krieg. »Denn wären Soldaten Menschen, würden Menschenleben betrauert, ohne dass Heldentum diese Trauer betäubt. Und wenn das Heldentum nachlässt und die Trauer überhandnimmt, dann zählen die Toten. Und wenn die Toten zählen, dann wollen zu viele den Krieg nicht mehr.«

Koester erinnert an den Vietnamkrieg, in dem zurückkehrende Särge ab einem gewissen Punkt keine Helden mehr bargen, sondern Söhne, Geliebte und Verlobte, wodurch die Stimmung kippte und gewichtige Teile der Bevölkerung sich gegen die Kampfhandlungen wandten. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf den Zustand der Unbetrauerbarkeit, eine Wortschöpfung Judith Butlers, Zitat: »Nur unter Bedingungen, unter denen sein Verlust von Bedeutung wäre, erscheint der Wert des Lebens. Die Betrauerbarkeit ist eine Voraussetzung für das Leben, das zählt. Ein Leben, das kein Zeugnis habe, das von niemandem betrauert werde, sei hingegen ein Leben, das nicht zähle.«

Sind Soldaten also wirklich Helden?

Selten.

Werden sie zu welchen gemacht?

Immer. Von kriegführenden Politikern, Militärs und Staaten sowie von privilegierten Männern und Frauen, die ein Interesse daran haben, ihnen unterlegene Männer als Kanonenfutter einzusetzen und jederzeit Nachschub rekrutieren zu können, den sie dringend brauchen, weil sie alles, bloß nicht selbst in den Schützengraben wollen. Die also lieber aus der sicheren Entfernung ihre hohe Meinung kundtun und sich dabei nicht zu schade sind, auf stumpfe Durchhalteparolen und die ­Greuel des Krieges verklärende Kampfbegriffe wie Mut, Siegeswillen und Ausdauer zurückzugreifen.

Denn wärmen der ausgelagerte Hurrapatriotismus und das auf Dritte projizierte Heldentum nicht gleich viel besser? Man selbst kann ja nichts machen, jedenfalls nicht, sofern man nicht der eben noch als igittebahpfui gelabelten und nun in den siebten Himmel finanzierten Rüstungsindustrie dient oder sich selbst an die Front begibt. Wonach gerade jenen am wenigsten der Sinn stehen dürfte, die sich in Talkshows, Leitartikeln und sozialen Medien am vehementesten als Scharfmacher und Militärexperten gerieren. Aber: Man gehört dazu, man steht moralisch auf der richtigen Seite und ist ganz selbstloser Ally, also fast noch besser als gut. Und weil sie eben nichts kostet, diese Gratismoral, lässt sie sich um so schmerzbefreiter in die Welt hinaustrompeten.

Für einen bestimmten Schlag prominenter älterer Männer etwa gehört die Aussage, man habe den Kriegsdienst damals zwar verweigert, würde sich heute aber wohl anders entscheiden, mittlerweile schon zum guten Ton. Da muss man doch einwerfen: Kriegsdienstverweigerung in Friedenszeiten, das ist die eine Sache. Entscheidender im Sinne der Idee ist nun aber die Kriegsdienstverweigerung in Kriegszeiten.

Es steht jedoch zu vermuten, dass es hier eher um die Pose geht, um das Symbol. Natürlich ist man mal jung gewesen, herrschaftskritisch oder unangepasst, und sobald die Inszenierung es verlangt, steht einem das alte Mäntelchen auch immer noch ganz gut. Wenn aber der Wind sich dreht und die Zeiten sich wenden, wenn dann also doch mal Krieg ist, dann geht man gefälligst auch hin. Also, nicht man selbst natürlich. Aber die anderen, bitteschön.

Folglich schlagen viele dieser gern als »nachdenklich« in Szene gesetzten Herren sich auch gleich noch auf die Seite derjenigen, die ausgerechnet nach drei Jahren Pandemie und inmitten eines umfassenden demographischen Wandels meinen, eine allgemeine Dienstpflicht für junge Erwachsene herbeiblöken zu müssen. Der Sänger einer der bekanntesten Rockbands des Landes beispielsweise formulierte es in einer SWR-Doku folgendermaßen: »Alleine die Tatsache, dass man für ein Jahr seines Lebens nicht selber entscheidet, wo es jetzt langzugehen hat, sondern dass jemand anders sagt, Freundchen, du tanzt hier nächsten Montag an, so – das kann nicht schaden.«

In solch schnippischem Tonfall und mit der herablassenden Fünfziger-Jahre-Ansprache »Freundchen« spricht ein zu diesem Zeitpunkt fast sechzigjähriger Berufs-, aber zu seinem Glück nicht mehr Passjugendlicher, der mit affirmativen Stadionrocknummern Millionen gemacht hat und bei Themen wie Wehrdienst, Dienstpflicht und Schützengraben schon rein altersmäßig fein raus ist. Und mit was für Applaus aus welch zweifelhafter Richtung bei einer Ansprache wie dieser zu rechnen ist, man kann es sich nicht nur vorstellen, sondern in den finsteren Gefilden einschlägiger X-Accounts und Onlinekommentarspalten jederzeit nachlesen.

Die Firnis der Zivilisation ist bekanntermaßen dünn und die Verrohung allerorten in vollem Gange. Die Latte hängt tief in einem Land, dessen damalige grüne Außenministerin bei einer Karnevalsveranstaltung in Aachen kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine scherzte, dass sich für den heutigen Auftritt eigentlich »das Leopardenkostüm« angeboten hätte, wäre da nicht die Sorge gewesen, mit dieser Verkleidung vom Kanzleramt »keine Reisegenehmigung« erteilt zu bekommen. Während sich einige ihrer in Rekordzeit radikalisierten Parteikolleginnen im Leopardenmusterpulli in den Bundestag setzten oder ihrer Forderung nach Kampfpanzern mit Freetheleo-Hashtags Ausdruck verliehen. Und damit nicht nur geflissentlich ihr Geschwätz von gestern ignorierten, sondern vor allem die Tatsache, dass es sich bei diesen sogenannten Leos nicht um lustiges Spielzeug handelt, sondern um Tod und Zerstörung bringendes Kriegsgerät, das sich für Verniedlichungen und Gewitzel nur bedingt eignen sollte.

In deutschen Talkshows aber wird schon längst nicht mehr für oder gegen Aufrüstung diskutiert, sondern nur noch darüber, wie man schnellstmöglich das sprichwörtliche Brikett zum Erlangen einer vermeintlich alternativlosen Kriegstüchtigkeit zulegt. Was zu einem absurden und seit nunmehr Jahren anhaltenden Überbietungswettbewerb an Aufrüstungsforderungen führte, der die möglichen Auswirkungen dieser Eskalationsspirale ebenso ausblendet wie konkrete Opferzahlen. Mit denen halten sich die Kriegsparteien ohnehin bedeckt, aus gutem Grund. Und auch hiesige Vertreter von Politik und Medien wollen es oft gar nicht so genau wissen. Denn wir erinnern uns: Im Krieg werden keine Menschen getötet, sondern Soldaten. Und die sterben nicht, sie fallen. Und wenn sie für die richtige Seite fallen, dann sind sie Helden und kriegen Preise verliehen.

Nur scheinbar ironisch kokettiert man mit Slogans wie »Woke und Wehrhaft« und redet lieber von der Zeiten- als von der Klimawende oder ohnehin immer im Nebulösen gebliebenen Vorhaben wie dem der feministischen Außenpolitik. Da hilft es enorm, dass vorerst nicht man selbst oder die nächsten Angehörigen an der Front verheizt werden, sondern zumeist junge Männer aus den proletarischen Milieus ferner Länder, deren Tod man allenfalls bedauernd in Kauf nimmt – hätten ja etwas Anständiges lernen können.

Der Journalist Daniel Schulz schreibt, dass es überwiegend Kolonisierte waren, die von der russischen Armee zuerst an die Front geschickt wurden, Soldaten aus Burjatien und Tuwa und Angehörige von Minderheiten innerhalb der Russischen Föderation. Männer in Moskau und Sankt Petersburg wolle die russische Regierung möglichst nicht rekrutieren, »damit der Widerstand nicht wächst«. Der im Sommer 2023 bei einem Flugzeugabsturz umgekommene Söldnerchef Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin etwa griff für seine Wagner-Gruppe überwiegend auf Menschen aus Straflagern zurück, und, noch einmal Elsa Koester in Der Freitag, »wie wenig Familie sie haben, das wird in den Berichten angedeutet, die uns über die Hintergründe Gefallener erreichen. Wir erfahren von Kleinkriminellen, die in Kinderheimen aufgewachsen sind, von Söhnen abgehauener Väter und drogensüchtiger Mütter, von verschuldeten jungen Männern. Die besten Kämpfer für Prigoschins ›Fleischwolf‹ sind jene, die nichts zu verlieren haben und deren Tod für niemanden ein Verlust ist. Betrauerbarkeit ist eine Frage der Macht, also eine Frage der Armut: Armut an menschlichen Beziehungen. Betrauerbarkeit ist im Krieg aber vor allem eine Frage des Geschlechts.«

In ihrem Text verweist Koester darauf, dass zwar auch Frauen in Armeen kämpften und sowohl Prigoschin als auch die russische Armee auch Frauen aus Frauengefängnissen rekrutierten, in Israel sind Frauen bekanntermaßen wehrpflichtig. »Das aber sind Einzelfälle. In den meisten Staaten zieht in Kriegszeiten eine wesentliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ein: Wehrpflichtig sind Männer, nicht Frauen. Es lässt sich nicht leugnen. Im Krieg zählt das Leben von Frauen mehr als das Leben von Männern.«

Fun Fact: Patriarchat ist auch, wenn die männlichen Staatsangehörigen eines kriegführenden Landes im Alter zwischen sechzehn und sechzig nicht ausreisen dürfen und mit Gewalt an die Waffe respektive die Front gezwungen werden.

Noch so ein Fun Fact: Das von der Ampelkoalition verabschiedete und Ende 2024 in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz sieht vor, dass eine Änderung des Geschlechtseintrags im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen verboten ist, und zwar nur in eine Richtung: von männlich zu weiblich oder divers. Unter Paragraph 9 heißt es: »Die rechtliche Zuordnung einer Person zum männlichen Geschlecht bleibt, soweit es den Dienst mit der Waffe betrifft, für die Dauer des Spannungs- oder Verteidigungsfalls bestehen.«

Den »Spaß« dann aber auch mal beiseite: Aktuell wird in liberalen und sich als mutmaßlich durchaus progressiv dünkenden deutschen Kreisen darüber diskutiert, ob es im Sinne der Gleichberechtigung angebracht sei, demnächst auch Frauen zum Militärdienst einzuziehen, oder ob es in Sachen Vaterlandsverteidigung nicht klüger wäre, wenn diese sich statt dessen auf ihre reproduktiven Kräfte besinnen und für Nachwuchs sorgen, der den im Kriegsfalle offenbar als oberste Priorität erachteten Erhalt der Nation sicherstellen kann.

Über diese Männer- und Frauenbilder, über diesen Heldenbegriff und die daraus resultierenden und von Klaus Theweleit schon vor Jahrzehnten in »Männerphantasien« herausgearbeiteten Verpanzerungseffekte dachte ich nach, als mir auffiel, wie arg mich das alles mitnahm und wie sehr es mittlerweile auch mich nach Formen des Heldentums dürstete, nach positiven Vorbildern und Role Models. Worauf mir der spanische Beamte Joaquin García in den Sinn kam, dessen Geschichte zu erzählen mir an dieser Stelle nun deutlich erquickender scheint, als mich weiter durch die Niederungen der deutschen Kultur- und Medienlandschaft zu kämpfen und an den zynischen Äußerungen wohlfeiler Sofageneräle abzuarbeiten.

Joaquin García, ein Ingenieur aus der südspanischen Stadt Cádiz, war vierzehn Jahre lang technischer Leiter im Umweltamt und ist mindestens sechs davon nicht zur Arbeit erschienen. Und das, ohne dass es seiner Behörde aufgefallen wäre. »Im Rathaus glaubte man, er sei bei den Wasserwerken«, so der ehemals zuständige Stadtrat, »und der Direktor der Wasserwerke wähnte ihn in der Stadtverwaltung.«

Garcías Abwesenheit fiel erst auf, als die Stadtverwaltung von Cádiz ihm einen Orden für langjährige Dienste überreichen wollte. Der stellvertretende Bürgermeister stellte Erkundigungen an und fand heraus, dass man García seit Jahren nicht mehr in seinem Büro gesehen hatte. Nachdem er aufgeflogen war, gab der Beschuldigte an, sich in seiner freien Zeit vor allem der Lektüre gewidmet zu haben. Sein Spezialgebiet sei der niederländische Philosoph Baruch Spinoza geworden.

Auf die Frage, warum García nicht gekündigt habe, erklärte sein Anwalt, sein Mandant habe schließlich eine Familie zu ernähren und darüber hinaus befürchtet, in seinem Alter keine Arbeit mehr zu finden.

Ich las davon erstmals in »Bullshit Jobs«, einem Buch des 2020 verstorbenen Anthropologen David Graeber, der das von ihm beleuchtete Phänomen so definiert: »Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet fühlt, so zu tun, als sei dies nicht der Fall.«

Es geht also gerade nicht um Tätigkeiten, die niemand machen will, weil sie anstrengend, schmutzig oder schlecht bezahlt sind. Sondern um solche, die eigentlich niemand braucht – und die oft auffallend gut entlohnt werden. Personalabteilung, mittleres Management, Finanzbranche, Werbeagentur, Marketing, PR … Häufig wird von Betroffenen auch die als quälend sinnlos empfundene Anstellung in der Verwaltung einer Universität, eines Krankenhauses, einer staatlichen Behörde oder eines privaten Unternehmens genannt. Der Bullshit-Job unterscheidet sich damit vom herkömmlichen Shit-Job in der Pflege, bei Paket- oder Lieferdiensten oder in der Gebäudereinigung. Tätigkeiten, die zwar einen hohen gesellschaftlichen Nutzen haben, oft aber unter schwierigen Bedingungen und bei skandalös schlechter Bezahlung verrichtet werden müssen. Auch das eine der eigensinnigen Logiken des real existierenden Kapitalismus.

Joaquin García wurde von einem Gericht wegen Betrugs zu einer Geldstrafe von 27.000 Euro verurteilt. Das entsprach seinem Nettojahresgehalt und somit dem einklagbaren Höchstbetrag. Er selbst sah sich als Mobbingopfer. Seine Vorgesetzten hätten ihn wegen seiner sozialistischen politischen Einstellungen nicht leiden können und ihm absichtlich einen Arbeitsplatz ohne Aufgabe zugeteilt. Diese Situation habe ihn so stark demoralisiert, dass er gezwungen gewesen sei, wegen seiner Depressionen medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

»Schließlich«, so Graeber, »sei er mit Zustimmung seines Therapeuten zu der Entscheidung gelangt, er brauche nicht mehr den ganzen Tag nur herumzusitzen und so zu tun, als sei er beschäftigt, sondern er könne genauso gut auch die Wasserwerke davon überzeugen, dass er bei der Gemeindeverwaltung arbeitete, und die Gemeindeverwaltung davon überzeugen, dass er bei den Wasserwerken arbeitete; dann müsse er nur noch auftauchen, wenn es ein Problem gab, ansonsten aber könne er genauso gut nach Hause gehen und mit seinem Leben etwas Nützliches anfangen.«

Jahrelange Arbeitsverweigerung, ohne dass es jemandem auffällt, um die dadurch ergaunerte Zeit mit geistig anregender Lektüre zu verbringen, das ist für mich ein positives und – auch wenn diesem »Freundchen«, um mal im Alfred-Tetzlaff-Duktus deutscher Frontmänner zu bleiben, dafür kaum jemals ein Denkmal gebaut werden wird – durch und durch inspirierendes Beispiel für eine niemandem etwas zuleide tuende, die Welt zu einem vielleicht besseren, ganz sicher aber nicht schlechteren Ort machende und in ihrer schier bartlebyschen Bescheidenheit ganz und gar unheroische Form des Heldentums.

Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 in Rheine, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher »Wo die wilden Maden graben« (2007), »Was kostet die Welt« (2010) und »Drive-By Shots« (2015). Zuletzt sind seine Romane »Der Abfall der Herzen« (2018) und »Arbeit« (2020) erschienen. 2024 wurde »Arbeit« für die Aktion »Berlin liest ein Buch« ausgewählt. Im September 2025 erscheint von Thorsten Nagelschmidt im März-Verlag »Nur für Mitglieder« über 86 Stunden »Sopranos« in elf Tagen – da, wo andere Urlaub machen.

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  • Leserbrief von Gerhard Moser aus Wien (12. Juni 2025 um 11:47 Uhr)
    Lob, wem Lob gebührt! Thorsten Nagelschmidts Essay über die reale wie geist- und verantwortungslose Militarisierung des »europäischen Westens«, inklusive der köstlichen Volte zum andalusischen Ingenieur und »Arbeitsverweigerer« (Bartleby!), hat Gehalt, Witz und Spachgewandtheit. Mich hat er an die guten, alten Zeiten der Konkret erinnert, die, um beim gut zu bleiben, schon gut dreißig Jahre her sind.

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