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Aus: Naher Osten, Beilage der jW vom 14.05.2025
Beilage Naher Osten

Schritt für Schritt

Schwarzes Meer, Osmanisches Reich und Türkei: Russlands Weg nach Nahost führt nur über den südlichen Nachbar
Von Reinhard Lauterbach
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Der Drang Russlands nach Zugang zu den es umgebenden Meeren ist fast so alt wie die russische Staatlichkeit selbst. Die Kiewer Rus, auf deren Erbe sich sowohl Russland als auch die Ukraine berufen, entstand und wuchs durch ihre Lage am Handelsweg von den Warägern zu den Griechen – von Skandinavien zum Schwarzen Meer und weiter nach Byzanz. Der Dnjepr/Dnipro war die Wasserstraße, über die der Handel mit Bernstein, Wachs und Sklaven abgewickelt wurde. Mit der Eroberung von Kiew durch die Mongolen 1240 war dieser Handelsweg abgeschnitten.

Als sich das Moskauer Großfürstentum ab dem 15. Jahrhundert konsolidierte, versuchte es, in drei Richtungen zu expandieren: nach Norden zum Weißen Meer – 1584 wurde die Stadt Archangelsk als wenigstens im Sommer nutzbarer Handelshafen mit England gegründet –, nach Osten in Richtung Sibirien, und nach Westen in Richtung Ostsee. Anfang des 18. Jahrhunderts eroberte Zar Peter I. (»Der Große«) den Ostseezugang von Schweden – Gründung von St. Petersburg –, Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Krim-Chanat unter Zarin Katharina II. besiegt, das die nördliche Schwarzmeerküste kontrollierte, und Odessa gegründet.

Konfrontation mit Osmanen

Aber der Zugang zum Schwarzen Meer bot noch nicht die Option, von dort aus in die Weltmeere aufzubrechen. Die Meerengen Bosporus und Dardanellen standen unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches, und das ganze 19. Jahrhundert verging im Zeichen ständiger kriegerischer Auseinandersetzungen. Zu Land drängte Russland die Osmanen Schritt für Schritt zurück. Bessarabien (die »Walachei« im heutigen Rumänien) wurde erobert, Bulgarien schließlich befreit. Aber schon damals versuchten westeuropäische Großmächte, Russland daran zu hindern, die Kontrolle über die Meer­engen zu gewinnen.

Darum führten England und Frankreich von 1854 bis 1856 einen Koalitionskrieg gegen Russland, den sogenannten Krimkrieg. Er endete mit einer für Russland blamablen Niederlage. Der imperiale Traum von der Rückkehr nach Konstantinopel war vorerst ausgeträumt, auch wenn Zar Alexander III. der Russisch-Orthodoxen Kirche ein Gotteshaus in Jerusalem spendierte, um sich selbst als Hüter der Heiligen Stätten (des Christentums) präsentieren zu können.

Im Ersten Weltkrieg standen sich Russland und das Osmanische Reich auf beiden Seiten der Frontlinien gegenüber, aber die Kämpfe dort hatten keinen kriegsentscheidenden Charakter. Den türkischen Völkermord an den Armeniern – im Prinzip eine durch den christlichen Glauben mit Russland verbundene Nation – konnte oder wollte das Zarenreich nicht verhindern. Es war an der westlichen Front gebunden.

Nach dem Putsch des Erneuerers Kemal Atatürk bemühte sich die Sowjetunion um zumindest korrekte Beziehungen zur Türkei. Das mit den Kemalisten geschlossene Meerengenabkommen von Montreux (1936) machte das Schwarze Meer militärisch zu einem Binnenmeer der Anliegerstaaten und verbot die Passage von Kriegsschiffen in Kriegszeiten. Es gilt im Prinzip noch heute und behindert die NATO beim Versuch, auch maritim ins Schwarze Meer zu expandieren. Aber die Rolle Ankaras in diesem Kontext ist mit zweideutig noch zurückhaltend beschrieben. Nicht nur, weil die Türkei Kiew im Ukraine-Krieg mit »Bayraktar«-Drohnen versorgt hat; sie hat auch zugelassen, dass in Mariupol gefangengenommene und angeblich bis Kriegsende in der Türkei zu internierende »Asow«-Faschisten schon nach wenigen Wochen in die Ukraine zurückkehren konnten.

Eine Folge der Konvention von Montreux ist auch, dass die russische Schwarzmeerflotte heute faktisch im Schwarzen Meer eingesperrt ist und selbst ein möglicher Abzug der bisher in Syrien stationierten Marineeinheiten zumindest Richtung Schwarzes Meer nicht möglich ist. Für Misstrauen sorgen in Moskau türkische Absichten, einen Umgehungskanal zum Bosporus nordwestlich an Istanbul vorbei zu bauen. Begründet wird dieses Vorhaben mit ökologischen Argumenten und der logistischen Überlastung der Meerenge und der damit erhöhten Unfallgefahr. Der Witz an diesem Plan ist aber geostrategisch ein anderer: Für den geplanten Umgehungskanal würde das Abkommen von Montreux nicht gelten, so dass über diese Wasserstraße auch NATO-Schiffe formal-rechtlich ins Schwarze Meer einfahren könnten.

Die geographische Lage der Türkei als Riegel vor dem Schwarzen Meer hat Russland auch in jüngster Zeit veranlasst, die Beziehungen zu Ankara pfleglich zu behandeln. Das Land ist Großabnehmer und Umschlagplatz für Öl und Gas aus Russland; mehrere Pipelines versorgen über türkisches Territorium Südosteuropa bis hin nach Italien. 2016 warnte Moskau Staatschef Recep Tayyip Erdoğan vor den Putschabsichten einer Gruppe prowestlicher Militärs (»Gülenisten«) und trug damit zum Scheitern des Staatsstreiches bei.

Interessen in Nahost

Aber Dankbarkeit ist keine Kategorie der internationalen Politik. In den vergangenen Jahren stießen die strategischen Interessen Russlands und der Türkei auf mindestens zwei Feldern gegeneinander. In Syrien ergriff Russland Partei des von westlichen Regime-Change-Plänen bedrohten Präsidenten Baschir Al-Assad und sicherte ihm mit seiner Intervention 2015 das politische Überleben. Im Gegenzug durfte es seine bestehende Marinebasis in Tartus an der syrischen Mittelmeerküste ausbauen. Die Türkei baute dagegen islamistische Assad-Gegner auf, nicht zuletzt deshalb, weil sich Assad in seinem Kampf gegen die Islamisten mit den in Nordsyrien lebenden und kämpfenden Kurden verbündet hatte. Dies wiederum konnte Erdoğan nicht recht sein; der mit türkischer und nach eigenen Angaben auch ukrainischer Unterstützung bewirkte Sturz des Präsidenten im Dezember war insofern auch für Moskau eine empfindliche Niederlage. Es muss jetzt mit Dschihadisten, die seine Luftwaffe über Jahre bombardiert hat, über die Erlaubnis verhandeln, die Basis in Tartus weiterzunutzen.

Das zweite Feld, auf dem russische und türkische Interessen gegeneinanderstoßen, sind Zentralasien und der Transkaukasus. In Zentralasien hat Erdoğan versucht, die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan in einer »Union der Turkvölker« stärker an sich zu binden. Moskau kann aber nicht viel mehr dagegen tun, als die lokalen Präsidenten gegen innenpolitische Gegner zu verteidigen. Zuletzt beim versuchten Regime-Change in Kasachstan 2022, als russische Militärs die Regierungstruppen unterstützten. Im Transkaukasus dagegen hat die Türkei seit jeher auf das sprachlich verwandte Aserbaidschan gesetzt und ihm mit Waffenlieferungen zum Sieg gegen Armenien und zur Rückeroberung von Bergkarabach verholfen. Russland hat dem notgedrungen zugesehen, denn es kann keinen Konflikt riskieren, da Aserbaidschan den Land- und Seetransit nach Iran behindern könnte. Armenien scheint daher bis auf weiteres für Moskaus Bündnisstrategie verloren: Der dortige Regierungschef Nikol Paschinjan hat sich für die »transatlantische« Option entschieden, ohne dass ihm dies einstweilen viel einbringt.

Im Nahen Osten kann Russland es sich nicht leisten, den Hegemonialanspruch Israels deutlich auszubalancieren. Israel ist eines der wenigen Länder der Region, das auch wegen seines starken Bevölkerungsanteils mit sowjetisch-russischer Herkunft (ca. 20 Prozent) eine im allgemeinen korrekte Politik gegenüber Russland verfolgt. Die postkolonialen arabischen Staaten haben sich im ersten Kalten Krieg als unzuverlässige und wankelmütige Bündnispartner erwiesen, und Russland konnte nach dem Zerfall der Sowjetunion wenig tun, um die Expansion der USA in diese Region zu stoppen. Immerhin haben sich die Beziehungen zu Ägypten zuletzt wieder gefestigt: Eine Abteilung des ägyptischen Militärs defilierte auf der Siegesparade mit.

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