Die unmögliche Reise
Von Peer Schmitt
»If I had a key to the world
Girl I’d give you everything«
Alte Soulweisheit (1981)
Leben heißt überleben. Wer wüsste das nicht besser als Tom Cruise/Ethan Hunt. So oft gähnte im Verlauf der »Mission Impossible«-Reihe schon der Abgrund unter ihm. Er kennt ihn zur Genüge, den schwindelerregenden Blick nach unten. Zuletzt in der Schlusssequenz von »Mission Impossible: Dead Reckoning« (2023) befand er sich auf dem Dach eines Orient-Express-Waggons, der auf einer gesprengten Eisenbahnbrücke in eine Schlucht mit reißendem Fluss zu stürzen drohte. Es kam nicht dazu. Glücklicherweise hatte Ethan Hunt obendrein einen Fallschirm zur Hand, mit dessen Hilfe er dann auf einer Wiese an einem beschaulichen See landete, wo Hunts technischer Koordinator Benji Dunn (Simon Pegg) bereits ungeduldig auf die Uhr schauend die Ankunft des Teamkollegen erwartete.
Der Zweck der Aktion war eine Schlüsselübergabe. Es handelte sich um den Schlüssel für den Quellcode der ominösen künstlichen Intelligenz »The Entity«, die bedrohlich unkontrollierbar das Netzwerk übernehmen möchte, das manche schlicht die Realität nennen. Hunt und Dunn blickten entsprechend besorgt drein. Eine Kamerafahrt über das Eismeer und dann hinab in die Tiefe, die unergründliche und nicht zuletzt tiefschwarze, illustrierte ihre Sorge. In der Tiefe des Eismeers liegt das Geheimnis von »The Entity« weiterhin beschlossen. Das Schlussbild von »Dead Reckoning« antizipierte die spektakulärste Sequenz nun in »Mission Impossible – The Final Reckoning«. Da taucht Ethan Hunt einsam in der Tiefe der Beringsee, um im Wrack eines sowjetischen U-Boots gleichsam das Schatzkästchen für den Schlüssel zu finden. Alle Wege weisen ins Eismeer.
In der 1996 unter Brian De Palmas Regie eröffneten »Mission Impossible«-Reihe schaute man bisher selten zurück. Man zitierte allenfalls. Man nahm sich, was das Zeug hielt, bediente sich bei Jules Dassins »Topkapi« (1964) oder Hitchcocks »Der unsichtbare Dritte« (1959), wieder und immer wieder. Vornehmlich aber schaute man nach vorn zur nächsten Mission. Diesmal ist es anders. Der Titel sagt es unzweideutig. Handelt es sich bei »Dead Reckoning« um eine konkrete Sache – »die Koppelung« bzw. »die Koppelnavigation«, um eine Technik der Orientierung, die mit berechenbaren Größen arbeitet (eigentlich ein Fall für die K. I.), steht als Fortsetzung nun die finale Abrechnung an, mit fast religiösen Anklängen der Offenbarung des Wahrhaftigen. Schließlich ist Tom Cruise bald (am 3. Juli) 63 Jahre alt und hat angeblich keine Lust mehr. Die 100 Meter läuft er vielleicht auch nicht mehr in 12 Sekunden im Anzug und macht vielleicht auch nicht mehr jeden Stunt selbst. Leichte Pausbäckchen hat er bekommen und etwas längere Haare.
In der letzten Abrechnung schaut man ständig zurück. Nicht nur auf den ersten Teil, der noch fast wie ein klassischer Agentenfilm funktionierte, beständig seit den Anfangstagen des Kinos (die Alpen, die Dampflokomotive, der Meeresgrund – das alles gab es schon 1904 in »Le voyage à travers l’impossible« von Georges Méliès), sondern zum ersten Film von 1996. Alles hat von Beginn an festgestanden, muss entsprechend umständlich erklärt werden und führt zu nichts anderem, als dass Ethan Hunt auf dem Eismeergrund den Schlüssel der Welt findet. Kann aber die allwissende »Entity« das so gewollt haben? Die Menschen machen ihre Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, heißt es. Liegt das im Kalkül der »Entity«, die angeblich selbst die Zukunft vorhersagen kann, obwohl ihr die Zukunft offenbar recht wurscht ist, denn ihr Plan ist, ungeachtet des Umstands, dass selbst die fortgeschrittenste K. I. auf eine ausreichende Stromversorgung angewiesen bleibt, die endgültige Katastrophe: der Atomkrieg.
Die »Entity« bemächtigt sich also des nuklearen Arsenals der einschlägigen Atommächte (zu denen hier ganz selbstverständlich auch Israel gehört; dafür sind z. B. vorgebliche französische Atomraketensilos angedeutet, die es in der Realität so nicht gibt). Die USA sind die letzte Atommacht mit noch einem Hauch von Kontrolle über ihre Atomwaffen. Der Präsidentin (Angela Bassett) stellt sich die Frage: Selbst die Katastrophe verursachen oder die Katastrophe der »Entity« überlassen? Schlechte Wahrscheinlichkeiten: der Tod oder der Tod. Sie entscheidet sich für das Unwahrscheinliche oder schlechthin unmöglich Erscheinende: Ethan Hunt schaltet mit seinem Schlüssel alles ab.
Nun geben spieltheoretische Kalkulationen allein kein gutes Bild ab. Die Katastrophe hat ein Repräsentationsdilemma. Gängiges Bild der drohenden Katastrophe im Actionfilm ist der Countdown. Für das Finale von »Final Reckoning« gibt es davon gleich drei: Der atomare Countdown beim Krisenstab im Weißen Haus (frei nach »Dr. Strangelove«), eine Sprengladung, mit der Ethan Hunts Team zu kämpfen hat, eine Operation am offenen Herzen von Benji Dunn, der um die letzten Luftzüge ringt, während er die Festplatte für die Gefangennahme der »Entity« bereithält. Leuchtet das Lämpchen an der Festplatte, ist die Operation gelungen. Das alles in Parallelmontage, während Ethan Hunt von einem Doppeldeckerflugzeug zum anderen nach dem Schloss für seinen Schlüssel jagt. Auch da leuchtet nach Vollzug ein Lämpchen.
In so einer unmöglichen Position, den Schlüssel zu allem in der Hand zu halten, aber dennoch noch Konkretes zu begehren (die Liebe einer Taschendiebin, die Unversehrtheit seines Teams) geht Ethan Hunt in die Frührente. Vorläufig, vermutlich nicht endgültig.
»Mission: Impossible – The Final Reckoning«, Regie: Christopher McQuarrie, UK/USA 2025, 169 Min., bereits angelaufen
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