Charlie wäre zufrieden
Von Marc Hairapetian
Filmbiographien sind eine Sache für sich. So sehr sich die Schauspieler auch bemühen, sie können dem jeweiligen Vorbild doch nie völlig gerecht werden. Noch mehr Zweifel kommen einem an der Darbietung, wenn man mit dem zu verkörpernden Objekt der Begierde befreundet war. Wie ich zum Beispiel mit »Monsieur Aznavour«.
Regisseur Atom Egoyan hatte mir den echten Charles Aznavour (geboren als Shahnourh Vaghinag Aznavourian am 22. Mai 1924 in Paris und verstorben am 1. Oktober 2018 in Mouriès) im Juli 2013 beim Internationalen Filmfestival »Goldene Aprikose« im Royal Tulip Grand Hotel in Jerewan vorgestellt. Der damals bereits 89jährige Sänger und Schauspieler, der von CNN und dem Time Magazine bereits 1998 zum »Entertainer des Jahrhunderts« gewählt wurde, lud mich einen Tag später zu einem Empfang in dem nach ihm benannten Museum ein. Dort führten wir unser erstes ausführliches Interview. Ein Jahr später feierten wir nach seinem umjubelten Konzert in der Berliner O2-World backstage seinen 90. Geburtstag.
Und nun gibt es also diesen Spielfilm über Aznavours Leben, der an seinem 101. Geburtstag in die deutschen Kinos kommt. »Das kann doch nichts werden!«, zweifelte ich vorher. »Und ob!« schreibe ich nun, nachdem ich mir das 133 Minuten lange Biopic angesehen habe. Vor allem Tahar Rahim in der Titelrolle ist ein Glücksgriff. Der 43jährige Franzose mit algerischen Wurzeln verkörpert bereits zum zweiten Mal einen Armenier. Vor einer Dekade überzeugte er in der Hauptrolle des Nazaret Manoogian in Fatih Akins Historienepos »The Cut« (2014) über den Völkermord im Osmanischen Reich 1915/16 an den christlichen Armeniern.
Rahim geht in der Rolle des Charles Aznavour ganz auf und ist zu Recht für den César als »Bester Schauspieler« nominiert. Im ersten Teil des Films, in dem Aznavour als »Zwerg mit der Krächzstimme« von der Kritik als Kind armenischer Immigranten auch rassistisch verhöhnt wird, bis Édith Piaf (Marie-Julie Baup) ihn unter ihre Fittiche nimmt, wirkt Rahim noch recht unbedarft. Doch von Chanson zu Chanson kommt er Charles Aznavour immer näher. Allerdings sind alle Lieder von »Les comédiens« über »She« und »Les plaisirs démodés« bis zu »Comme ils disent« Original-Aznavour. Rahim bewegt lediglich die Lippen dazu. Dass er dennoch ein Charakterdarsteller ist, zeigt er – ausgerechnet auf dem Gipfel von Aznavours Erfolg – in der Trauer um den drogenabhängigen (Film-)Sohn Patrick (Kolia Abiteboul), der mit 25 Jahren an einer Überdosis stirbt.
Auch die Nebenrollen sind glänzend besetzt. Bastien Bouillon gibt seinen selbstlosen Freund Pierre Roche, mit dem er anfangs noch ein Auftrittsduo bildete und durch kleine Klubs tingelte. Camille Moutawakil wiederum begeistert als Aznavours Schwester Aïda (mittlerweile 102 Jahre alt). Verschwenderisch ausgestattete Setdesigns armenischer Familienfeste faszinieren. Zu kurz kommen allerdings die Schauspielerauftritte der Nouvelle-Vague-Ikone. Lediglich sein vielleicht berühmtester Film, François Truffauts »Schießen Sie auf den Pianisten« (1960), in dem er Pech in der Liebe und beim Spiel hat, wird in einer Szene angedeutet.
An den Vorbereitungen zur französisch-belgischen Koproduktion war der nur 161 Zentimeter große Künstler, der 1.200 Chansons in acht verschiedenen Sprachen aufnahm und 200 Millionen Platten verkaufte, selbst noch beteiligt. Posthum vollendete das Regie- und Autorengespann Mehdi Idir und Grand Corps Malade in Kooperation mit Produzent Jean-Rachid Kallouche, dem Ehemann von Aznavours Tochter Katia, stilsicher den ambitionierten Gesamtüberblick. Ich denke, »Charlie« wäre mit dem Resultat zufrieden.
»Monsieur Aznavour«, Regie: Mehdi Idir und Grand Corps Malade, Frankreich 2024, 133 Min., Kinostart: heute
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