In den Ruinen Europas
Von Dean Wetzel
Die Novelle ist eine in der modernen Literatur unterrepräsentierte Gattung. Irgendwo zwischen Kurzgeschichte und Roman erfüllt sie eine relativ unbestimmte Aufgabe, weswegen eine klare Zuordnung oft schwerfällt. Eine prägnante Definition liefert allerdings Goethe in einem Gespräch mit seinem Vertrauten Eckermann, in dem er die Novelle als das Ereignis einer »unerhörten Begebenheit« bezeichnet. Wenn Lukas Meisners Buch »Wrackmente« nun als Novelle erscheint, könnte man fragen, von welcher unerhörten Begebenheit es berichtet. Ist es der Untergang des stadtgewordenen Museums Venedig? Ist es der Erlebnistourismus, den das Hochwasser mit sich brachte? Oder sind es die vom Wasser hinweggespülten Rechte, was die im Mittelmeer versunkene Lagune in einen rechtsfreien Raum verwandelte?
»Wrackmente« erzählt von all dem: Es handelt von vier Protagonisten – von Zurückgebliebenen. Da ist Leandro. Er ist der letzte Venezianer. Durchs Leben schlägt er sich als Sprachlehrer, Tourguide und Straßenmusiker. An Sprache, Gesang und den Geschichten der Stadt ist aber schon lange niemand mehr interessiert, und so versinkt er in Erinnerungen ans Vergangene.
Wenig besser geht es der ehemaligen Ökonomin Helen, auch Friday genannt. Ihre Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems findet auf dem freien Markt der Ideen keinen Absatz mehr, weswegen auch sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält.
Nachdem man vor der Klimakatastrophe nicht mehr warnen musste, da alle entscheidenden Kipppunkte schon lange überschritten wurden, verlor auch der ehemalige Klimaforscher Dirk seinen Job. Vom Klima abgewandt bangt er jetzt nur noch um den Erhalt seines gestählten Körpers. Voller Sorge, dass auch dieser schmilzt.
Die hier überall erkenntliche gesellschaftliche Depression war schon vor Jahrzehnten Marlènes Forschungsgegenstand. Als Psychiaterin für »Ärzte ohne Grenzen« warnte sie damals, in einer bewegenden Ansprache vor der UNO, vor dem pathologischen Zwang der Gegenwart. Bewegt hat sich daraufhin jedoch nichts.
Und dann ist da noch ein Fünfter. Einer, der in Spiegelschrift Sprüche auf die schimmelnden Mauern über der Wasseroberfläche sprüht. Sätze, die sich erst in der Reflexion des Wassers übersetzen.
Erst treffen sie sich zu viert, dann zu fünft. Warum sie zusammenkommen, sich Jahr für Jahr am selben Tag versammeln, wird nicht ganz klar. Wahrscheinlich wissen sie es selbst noch nicht. Was sie jedoch wissen, ist, dass da etwas ist. Etwas Gemeinsames, das es zu ergründen gilt.
Meisners poetische Felsenmelodien irritieren. Sie verschieben in ihrer lakonisch-epigrammatischen Rhythmik den Blick. Er fällt auf gravierte Steine, die zur Zeit noch die Geschichte Europas dokumentieren. Auf eine Stadt, die in ihrem Entwurf schon Erbe sein wollte, die künden sollte von der Würde des Menschen – ein lebendes Denkmal seines Selbstentwurfs. Es ist die Geschichte der Renaissance, die des sich wiederentdeckt habenden Menschen, die das steigende Wasser mit der Zeit aus den Steinen waschen wird. Zurückblickend ist es aber auch die Geschichte des Kapitalismus. Und wenn sich nichts ändert, wird selbst noch dessen Grabschrift im ewigen Ozean verblassen. Doch diese Zeit ist noch nicht gekommen.
Von welcher unerhörten Begebenheit erzählt »Wrackmente« aber nun? Spricht es vielleicht von der Hoffnung, die durch all das, was sich noch nicht ereignete, vorscheint? Die wir im Antlitz des anderen, trotz alledem, noch leuchten sehen? Stehen uns die unerhörten Begebenheiten vielleicht erst noch bevor? Sind sie das Ende, in dem sich ein Anfang eröffnet? Oder ist es im Gegenteil gerade die unerhörte Ereignislosigkeit, mit der sich das Unerhörte in der Welt ereignet? Eine eindeutige Antwort findet sich in Meisners Novelle nicht, sie wirft allerdings die richtigen Fragen auf. Sie fragt nach den unerhörten Begebenheiten, die sich in unserer Zeit ereignen.
Lukas Meisner: Wrackmente. Novelle. Verlag Kopf & Kragen, Berlin 2025, 90 Seiten, 16 Euro
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Feuilleton
-
Einfach mal machen
vom 22.05.2025 -
Nachschlag: Größere Hürde
vom 22.05.2025 -
Vorschlag
vom 22.05.2025 -
»Sie galten als Feiglinge, obwohl sie total mutig waren«
vom 22.05.2025 -
Das Ende der Aufrichtigkeit
vom 22.05.2025 -
Charlie wäre zufrieden
vom 22.05.2025