Das Ende der Aufrichtigkeit
Von Holger Römers
Die Handlung des Spielfilms »Oslo-Stories: Sehnsucht« beginnt mit einem langen Dialog, in dem eine objektive Grenze sprachlichen Ausdrucks ebenso aufscheint wie ein subjektiver Glaube an den Wert des offenen Gesprächs: Während er einen Traum nacherzählt, bemerkt ein namenlos bleibender Schornsteinfeger (Thorbjørn Harr), dass seine Worte jene Ungreifbarkeit negieren, die Träumen eigentümlich ist. Sein ebenfalls anonymer Kollege (Jan Gunnar Røise) berichtet indes von einem Diensttermin, der am Vortag ungeplant in Sex mit einem Kunden gemündet ist. Da das einmalige Erlebnis ihn mit ungeahntem Glück erfüllt, aber gemäß seinem Moralverständnis keine Untreue bedeutet, hat der Familienvater seine geliebte Ehefrau (Siri Forberg) schon in Kenntnis gesetzt. Als er in der nächsten Szene nach Hause kommt, muss er freilich erkennen, dass seine naive Ehrlichkeit die lange Beziehung auf eine Probe stellt – selbst wenn die Partnerin eine liberale Haltung zu Liebe, Sex und dem Verzicht auf Heimlichkeiten grundsätzlich teilen mag.
Zynisch mag man einwerfen, dass nichts anderes zu erwarten war. Doch dessen ist sich Regisseur Dag Johan Haugerud, der wie bei den anderen Teilen seiner »Oslo Stories«-Trilogie zugleich als Drehbuchautor firmiert, gewiss bewusst. Jedenfalls erlaubt sich der 60jährige Norweger hier noch mehr als in »Träume« (und erst recht mehr als im zuerst in hiesige Kinos gekommenen Film »Liebe«) Anflüge leiser Ironie. Indem er den arglosen Willen des Protagonisten zur unbedingten Offenheit früh auf die Spitze treibt und ihn später einer nebenbei in Erscheinung tretenden Ärztin (Anne Marie Ottersen) zuschreibt, nimmt er das abstrakte Ideal der freien Rede aber um so ernster – und rührt dabei sowohl an althergebrachter Verklemmtheit wie, ganz subtil, an neuerdings proklamierten moralische Empfindlichkeiten.
Dabei steht dem besagten Ideal offenbar zunächst das jeweilige Individuum im Wege. Zumindest legt Haugerud diese Schlussfolgerung nahe, wenn er den zweiten Protagonisten, der in wiederkehrenden Träumen von David Bowie heimgesucht und mit seinem Kirchenchor bald ein Solo singen wird, wegen vermeintlicher Stimmprobleme eine Therapeutin aufsuchen lässt: Die Frau diagnostiziert sogleich eine innere Verkrampfung, der durch beherztes Ziehen an der Zunge beizukommen sei.
Allerdings bleibt uns die Gesellschaft in »Sehnsucht« stets als bestimmender Faktor bewusst. Impressionen der Osloer Stadtlandschaft, die auch in den anderen Filmen der Trilogie regelmäßig eingeschoben und gelegentlich mit der Handlung verknüpft waren, prägen hier sogar Innenaufnahmen. So ist der Pausenraum, in dem das erste Gespräch der Protagonisten stattfindet, an zwei Seiten von einem breiten Fensterband umgeben, das den Dialog in den Großstadtverkehr einbettet, dessen ständige Präsenz die Kamerafrau Cecilie Semec und der Cutter Jens Christian Fodstad unterstreichen, indem sie zehn Minuten auf jeden Schnitt verzichten. Zwei Aussprachen zwischen den streitenden Eheleuten sind wiederum (ebenso ungeschnitten) vor dem Panoramafenster eines Wohnzimmers angesiedelt, das den Blick aus einem Vorort auf die am Horizont liegende Hauptstadt freigibt. Um so mehr fällt deshalb auf, dass die von Semec gewählte Brennweite diesen Hintergrund im zweiten Fall auf vage Schemen reduziert, bevor die Kamera sich mit einem Schwenk von der Außenwelt abwendet und ihren Fokus im Vorbeistreifen auf unaufgeräumte Details privater Häuslichkeit richtet.
Das ist wohl auf jene Räume des Politischen, Öffentlichen und Privaten zu beziehen, zwischen denen Hannah Arendt unterschieden hat, wie die Stimmtherapeutin beiläufig erwähnt. Allerdings bleiben die Filmfiguren in ihrem Alltag auf Klischees angewiesen, wenn sie mit Vorstellungen von ihrem Selbst und ihren Beziehungen ringen: Dem durchaus tiefschürfenden Bemühen liefern Songzeilen oder ein Radiomoderator das Stichwort. Dazu passt wohl, dass die ungezwungene Regie an einer Stelle den berühmtesten Kameratrick aus Hitchcocks »Vertigo« paraphrasiert und mit Mehrfachbelichtung und Überblendung an anderer Stelle den Kitsch von Musikvideos der frühen 80er Jahre herbeizitiert.
Vielleicht ist auch folgerichtig, dass der utopische Wunsch nach Selbstverwirklichung und Selbstausdruck, denen das jeweilige Gegenüber und die Gesellschaft keine Grenzen setzen sollen, in »Sehnsucht« schließlich die Metaphysik streift. Jedenfalls nimmt das Thema Religion, das schon in »Träume« anklang, hier noch größeren Raum ein. Und die Jungfrau Maria, auf deren Geheimnis in jenem Film ebenfalls metaphorisch verwiesen wurde, dient in diesem als Beispiel für ein denkbar kokettes Gleichnis.
»Oslo-Stories: Sehnsucht«, Regie: Dag Johan Haugerud, Norwegen 2024, 118 Min., Kinostart: heute
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