»Arévalo sind die Hände gebunden«
Interview: Thorben Austen, Quetzaltenango
In welcher Situation befindet sich Guatemala, nachdem zwei indigene Anführer der Selbstverwaltungsstruktur »48 Kantone«, Luis Pacheco und Héctor Chaclán, vergangene Woche festgenommen wurden?
Luis und Héctor wurden festgenommen wegen der Proteste 2023, bei denen wir das Wahlergebnis verteidigt hatten. Die Massenmobilisierungen unter Führung der indigenen Autoritäten waren eine Lektion für Guatemala. Vorgeworfen werden den beiden diverse Straftaten wie »Terrorismus«, »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« und »Behinderung der Justiz«.
Wir als ursprüngliche Autoritäten sind keine Terroristen oder Kriminelle, sondern Selbstverwaltungsorgane unserer Gemeinden, wie sie seit Tausenden von Jahren existieren. Wir werden je nach Region für ein oder zwei Jahre in Versammlungen gewählt und vertreten die Interessen unserer Gemeinden. Die Arbeit ist unbezahlt, es ist uns eine Ehre, dem Volk zu dienen.
Präsident Bernardo Arévalo hat mit verschiedenen indigenen Autoritäten am 29. April eine Pressekonferenz abgehalten. Die Festnahmen wurden als »Putschversuch« gewertet und scharf verurteilt. Aber müsste Arévalo nicht mehr tun?
Selbstverständlich kann man sagen, er müsste mehr Druck auf die Staatsanwaltschaft ausüben, aber ihm sind die Hände gebunden. Es gibt Anträge im Kongress zur Reform der Staatsanwaltschaft, aber das blockiert die Parlamentsmehrheit der Parteien des »Paktes der Korrupten«. Am Montag zuvor gab es bereits eine große Demonstration der »48 Kantone« in der Hauptstadt, an der auch Abgeordnete von Semilla teilnahmen. Wir diskutieren in unseren Versammlungen die Situation und werden, wenn nötig, weiter reagieren.
Gerade in den indigenen Gebieten des Landes lebt ein sehr hoher Prozentsatz der Menschen in Armut und extremer Armut. Wie bewerten Sie die Sozialpolitik der Regierung von Arévalo in ihren ersten 16 Monaten?
Die Armut und extreme Armut sind die zentralen Probleme. Bei uns im Landkreis beispielsweise gibt es viele Familien, deren einzige Einnahmequelle der Verkauf von Kaugummis ist. Sie verkaufen drei Stück für einen Quetzal (etwa 0,12 Euro, jW). Wie viele Kaugummis müssen da verkauft werden, um den Lebensunterhalt für eine mehrköpfige Familie zu verdienen? Arévalo müsste mit der Verbesserung der Gesundheit und vor allem der Bildung sowie bei Arbeitsmöglichkeiten im ländlichen Raum ansetzen. Da fehlt noch viel.
An den 1.-Mai-Demonstrationen haben wir mit einer recht großen Delegation in Quetzaltenango teilgenommen. Hier wurden die Probleme benannt: Der Achtstundentag wird oft nicht eingehalten, der Mindestlohn reicht nicht zum Leben und wird oft auch gar nicht gezahlt. Das und die fehlenden Arbeitsplätze treiben viele junge Menschen in die Migration. Sie riskieren ihr Leben und müssen hohe Summen für die Schlepper zahlen.
In den indigenen Gemeinden spielen Sie als »ursprüngliche« Autoritätsfiguren offenbar eine wesentlich größere Rolle als die politischen Parteien. Warum streiten Sie überhaupt für eine bessere Zentralregierung?
Als indigene Bürgermeister regeln wir viele Dinge des Zusammenlebens tatsächlich selbst: von familiären Problemen bis zu juristischen Streitigkeiten. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf das Zusammenleben aus. In unseren Gemeinden ist es viel ungefährlicher als beispielsweise in der Hauptstadt, die Mord- und Kriminalitätsrate sind deutlich niedriger. Wir wollen das Land verändern, in dem wir leben. Das Ziel ist ein plurinationaler Staat, auch wenn es bis dahin noch ein sehr langer Weg ist.
Die Proteste von 2023 haben die Aufmerksamkeit national wie international auf die indigene Bevölkerung gerichtet. Gibt es seitdem Veränderungen?
Es gibt mehr Unterstützung für die indigenen Völker durch internationale Menschenrechtsorganisationen, auch durch die Regierung Arévalo. Er interessiert sich für unsere Anliegen, hört uns zu, redet mit uns. Vor Arévalo haben sich die Politiker im Land für die indigene Bevölkerung genau einmal in vier Jahren »interessiert«: wenn es vor den Wahlen darum ging, unsere Stimmen zu bekommen.
Carlos Mejía ist stellvertretender indigener Bürgermeister im Landkreis Olintepeque in Guatemala
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