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Aus: Ausgabe vom 03.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Wir gut, du böse

Vom 6. bis zum 28. April fand in Budapest das elfte MITEM-Theaterfestival statt.
Von Sabine Fuchs
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Die dunklen Seiten des Mythos: Tata Tavdishvili und Tato Geliashvili in »AIA«

Das Madách International Theatre Meeting (MITEM) wird von deutschen Theatern boykottiert. Der Leiter des ungarischen Nationaltheaters und damit auch des Festivals, Attila Vidnyánszky, stehe der Regierung Orbán zu nahe, so der Tenor. Aber mit Kulturboykotten ist das so eine Sache, ihre Grundlage ist oft genug ein manichäisches Weltbild: »Wir gut, du böse.« Grauzonen gibt es keine, Diskussionsräume für unterschiedliche Positionen auch nicht, und schnell regiert bei den Boykotteuren die Logik der Ausgrenzung.

Auf das Theaterfestival selbst trifft der Vorwurf der Regierungsnähe nicht zu. Nationalistische, kulturkonservative Tendenzen, wie sie die Politik der Regierung Orbán charakterisieren, sind keine auszumachen. Das Programm der elften Ausgabe ist mit 18 Produktionen aus elf Ländern breit aufgestellt, unter anderem sind das Gesher-Theater aus Tel Aviv, das Nationaltheater Košice und das Teatro de La Abadía aus Madrid zu Gast. Das Rahmenprogramm umfasst unter anderem Veranstaltungen zu zeitgenössischen Adaptionen antiker Mythen und zum revolutionären russischen Theaterregisseur und -theoretiker Wsewolod Meyerhold (1874–1940).

Während körperorientierte, antinaturalistische, antipsychologische Ansätze wie (historisch) der von Meyerhold in Deutschland derzeit weniger Beachtung finden, herrschen sie beim MITEM 11 vor. So zeigt das Schota-Rustaweli-Theater aus Tbilissi mit den beiden Regisseuren Tata Tavdishvili und Tato Geliashvili »AIA« – eine nonverbale Performance, die auf dem Mythos des Goldenen Vlieses beruht. Tavdishvili hat als Schauspielerin, Regisseurin und Wissenschaftlerin improvisierte Bewegungsabläufe erforscht. Mit »AIA« ist ihr und ihrem Kollegen Geliashvili eine interessante Choreografie zu den dunklen Seiten des Mythos gelungen.

Vier der gezeigten Inszenierungen entstammen dem Theateruniversum des griechischen Regisseurs Theodoros Terzopoulos – drei vom Meister selbst, eine von seinem langjährigen Assistenten, dem mittlerweile selbst renommierten Regisseur Savvas Stroumpos. »Die Bakchen« von Euripides und Brechts »Mutter Courage« sind Produktionen, die Terzopoulos mit dem ungarischen Nationaltheater erarbeitet hat. Becketts »Warten auf Godot« hat er mit dem Teatro Emilia-Romagna und italienischen Schauspielern auf die Bühne gebracht. Alle drei Inszenierungen könnte man sich ihrer Intensität wegen immer wieder anschauen.

Stroumpos und seine Gruppe Simeio Miden zeigen ihre Interpretation von Tschechows »Die Möwe«. Es ist das erste Mal, dass sich der griechische Regisseur mit einem Werk der realistischen Tradition auseinandersetzt. Seine Interpretation ist aber nicht historistisch, sondern abstrakt, und spielt in einer messianischen Endzeit, in der eine alte, jede Freiheit erstickende Welt im Sterben liegt, eine neue sich aber noch jeder Vorstellungskraft entzieht. Das Stück ist auf die vier zentralen Rollen heruntergebrochen: die berühmte Schauspielerin Arkadina, ihr Liebhaber, der Schriftsteller Trigorin, ihr Sohn, der angehende Schriftsteller Trepljow und die Nachbarstochter Nina, das Mädchen aus gutem Haus, das gerne Schauspielerin wäre. Dazu kommt eine von Stroumpos hinzugefügte fünfte Figur, die die Handlung kommentiert, die Szenen verbindet und in einer unglaublichen Anverwandlung selbst zur Möwe wird.

In dem Endzeitpanoptikum, das die Gruppe zeigt, haben die Menschen jedes Gespür für sich und ihre wahren Gefühle verloren. Keiner ist ein unschuldiges Opfer, auch Nina nicht, die von Elpiniki Marapidi als staunendes Mädchen gezeigt wird, das ohne jeden Skrupel ihre wahre Liebe Trepljow verrät, um ihrem Traum vom Künstlerinnendasein nachzujagen. Giannis Sanidas gibt Trepljow als verbittertes Muttersöhnchen, dessen Ringen um neue Ausdrucksformen in der Kunst von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Stroumpos selbst ist Trigorin, der wie ein Vampir den Frauen in seiner Umgebung jede Lebensenergie aussaugt, um sie in seinen mittelmäßigen, aber erfolgreichen Büchern zu verarbeiten.

Zwei Schauspielerinnen dieses großartigen Kollektivs verdienen besondere Erwähnung. Rosy Monaki gibt eine Arkadina, die gleichermaßen bemitleidenswert und grotesk ist, so vom Wahn ihrer verblassenden Schönheit besessen, dass sie, wo sie wahre Gefühle ausdrücken sollte, mit blockiertem Atem die Sätze quasi einsaugt, statt sie auszusprechen. Anna Marka-Bonisel, die für ihre Darstellung den Preis als beste junge Theaterdarstellerin Griechenlands 2023 erhalten hat, ist Pierrot, die sterbende Möwe, das einzige Wesen mit wahren Gefühlen, das die Handlung sarkastisch kommentiert. Ihr Satz »Wir müssen das Leben ernst nehmen«, ist die letzte Zeile der Inszenierung.

Die deutsche Theaterszene boykottiert mit dem MITEM-Theaterfestival auch eine Plattform, auf der in den vergangenen Jahren immer ein lebendiger Austausch zwischen westlichen und östlichen Theatertraditionen stattgefunden hat. Ein Verlust ist das in erster Linie für das deutsche Theater.

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