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Aus: Ausgabe vom 08.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Klarheit und Dystopie

Theodoros Terzopoulos inszeniert am Nationaltheater Budapest Brechts »Mutter Courage«
Von Sabine Fuchs
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Körper im Krieg: Terzopoulos, härter als Brecht

Der griechische Regisseur Theodoros Terzopoulos ist ein Experte für Bertolt Brecht: Einen Teil seiner Ausbildung hat er in den 70er Jahren am Berliner Ensemble absolviert, er hat Helene Weigel noch kennengelernt und als erstes Stück nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1977 in Thessaloniki Brechts »Brotladen« inszeniert, streng nach den Vorgaben des Meisters. Diese Vorgaben erwiesen sich jedoch mit der Zeit als zu starr für seine überbordende Kreativität – Jahre später bezeichnete Terzopoulos Brecht in einem Gespräch mit Fritz Raddatz als »apollinischen« Künstler, bei dem auch die gegen das bürgerliche Theater gerichtete Verfremdung immer einen logozentrischen Ausgangspunkt und rationalen Bezug habe.

Terzopoulos’ Herangehensweise ist eine andere. Begriffe wie Energie, Rhythmus, Ritual und die Struktur auf der Bühne sind ihm wichtiger als Theorie. Das sieht man auch an der Inszenierung von »Mutter Courage und ihre Kinder«, die Mitte Januar in Budapest Premiere hatte. Die klare, abstrakte Bühnenästhetik vermeidet jeden Naturalismus, ebenso wie die Schauspielerinnen und Schauspieler. Trotzdem ist das Ergebnis viel härter und dystopischer, als Brecht es in seiner Modellinszenierung vorgegeben hat.

Die Kriege der Gegenwart, so Terzopoulos in einem Interview anlässlich der Premiere, schockierten und erschütterten uns zunächst, aber schon nach kurzer Zeit verdrängten wir sie und vergäßen, was die Bilder auf unseren Bildschirmen bedeuten. Genau das sei aber das Kalkül der hybriden Kriege – wir vergäßen, dass es nicht um Bilder geht, sondern um die sterbenden Körper realer Menschen, die gerade eben noch lebendig waren.

Wie in all seinen Arbeiten geht Terzopoulos von der Energie der Körper seiner Darsteller auf der Bühne aus, auch in seiner Interpretation des Brecht’schen Verfremdungseffekts. Das wird etwa bei den Soldatenkolonnen deutlich, die die Bühne immer wieder, oft zeitlupenartig langsam durchqueren – mal mit Messern in den Händen, mal mit roten Stöckelschuhen, mal mit Militärstiefeln, die sie auf die Schultern des Vordermanns legen, diesen gleichsam niederdrücken und disziplinieren, genau wie sie selbst niedergedrückt und diszipliniert sind – Opfer und Täter zugleich. Es ist die Langsamkeit der Bewegung, die Bedrohlichkeit und Spannung erzeugt. Der Zuschauer kann sich dieser dystopischen Darstellung kaum entziehen.

Auch das Bühnenbild, für das wie immer Terzopoulos selbst verantwortlich zeichnet, ist abstrakt, spielt mit symbolischen Versatzstücken: Messer, Metallrohre, die an Granatenwerfer erinnern, blutgetränkte Bücher, die roten Stöckelschuhe als Sinnbild für kommerzialisierte Erotik. In einer fast slapstickartigen Szene erhalten die Soldaten ihren blutgetränkten Lohn und bringen ihn, einer nach dem anderen, sofort für eine schnelle Nummer zu der Hure Yvette. Die Szene ist urkomisch in ihrer stilisierten Darstellung automatisierter Sexualität, macht aber auch deutlich, dass Geld in jedem Zusammenhang ein Fetisch ist, auch und besonders im Krieg.

Gegen Ende des Stücks erscheint im Bühnenhintergrund ein riesiges Kreuz, das aus einzelnen Porträtfotos zusammengesetzt ist. Es zeigt Opfer der Kriege des 20. Jahrhunderts, Sophie Scholl ist zu erkennen, aber auch ungarische und griechische Opfer des Zweiten Weltkriegs und des griechischen Bürgerkriegs. Krieg bedeutet immer und überall Entmenschlichung, auch wenn einzelne Momente des Menschlichen immer wieder durchscheinen – bei Anna Gizella Kiss’ stummer Kattrin, bei der Courage der phänomenalen Nelli Szűcs, die hier nicht einen Marketenderinnenwagen hinter sich herzieht, sondern einen offenen Sarg, aus dem sie immer wieder andere Waren hervorwühlt. Ein einziger Blick am Ende reicht ihr, um die Tragik dieser profanen Figur deutlich zu machen. Kein einziger der Darsteller bedient den billigen Psychologismus des bürgerlichen Identifikationstheaters, ihre Figuren sind Archetypen, untote Wiedergänger des Kriegs, dessen immer gleichen Mechanismus sie aufdecken.

In Ungarn ist »Mutter Courage und ihre Kinder« das populärste Stück Brechts, wird immer wieder aufgeführt, ist Schullektüre. Trotzdem folgen die Zuschauer der Inszenierung mit einer Konzentration, die man in deutschsprachigen Theatern sucht. Das mag damit zu tun haben, dass das ungarische Publikum eine tiefe Sehnsucht nach Kunst hat, die weder den reaktionären Kulturbegriff der Orbán-Regierung noch den kapitalistischen Vulgärliberalismus bedient. Es hat aber vor allem damit zu tun, dass am Budapester Nationaltheater eine Inszenierung zu sehen ist, die gerade in ihrer Stilisierung hochpolitisch und auf der Höhe unserer Zeit ist.

Nächste Vorstellungen: 8.2., 4. und 22.3.

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