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Aus: Ausgabe vom 03.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Comic

Liebesspiel mit einer Leiche

Kreise mit Punkten: Elizabeth Pichs Comic »Fungirl«
Von Marc Hieronimus
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So wird der Mensch: Fungirl hat Spaß

Jede Reduktion im Comic hat ihre Wirkung. Wenn zum Beispiel der mehrfach Will-Eisner-preisgekrönte norwegische Zeichner Jason (zuletzt: »Ein Norweger auf dem Jakobsweg«) seine anthropomorphen Tierwesen ohne Pupillen und fast bar jeder Mimik auf Zeitreisen schickt (»Ich habe Adolf Hitler getötet«, beide Reprodukt) oder Auftragsmorde begehen lässt, ist die Diskrepanz zwischen Erlebtem und scheinbarer Teilnahmslosigkeit sehr befremdlich und verlangt nach Erklärung: Ist das eine Maske, wie sie in Gesellschaft so viele Menschen tragen, oder sind all diese Leute innerlich tot? Wie würden die Figuren wirken, wenn sie Augäpfel hätten oder Münder statt Schnauzen und Schnäbel? Welche Wirkung erzeugt der Zeichner durch diese Wahl? Vorausgesetzt, er hatte eine und ist nicht bloß aus mangelndem handwerklichem Können auf diesen Stil verfallen.

Nun ist in der Edition Moderne mit »Fungirl« von Elizabeth Pich ein Comic erschienen, in dem sich die Gesichter auf Kreise mit Punkten beschränken. Münder gibt es nur, wenn die Situation sie unverzichtbar macht, wenn nämlich gegessen oder geküsst wird; beim Reden bleibt die Schnute verschwunden. Nasen? Fehlanzeige. Ganz anders als Jasons lakonische Charaktere schlittert Fungirl von einer unmöglichen Situation zur nächsten. Wo Jason Melancholie und Ruhe ausstrahlt, macht Fungirl verschämt und hibbelig. Manches Abenteuer wird von der Autorin selbst erlebt sein, die meisten hoffentlich nicht. »Fungirl ist vor allem eins: unberechenbar!« wirbt der Zürcher Verlag. »Ihr Verhalten ist unangebracht, vulgär, opportunistisch und trotzdem (oder gerade deswegen) überraschend menschlich und charmant. Eine Ode an Screw-ups mit einem Herz aus Gold.«

Was erlebt das Spaßmädchen so? Vergisst beim Masturbieren die Pizza im Ofen, so dass die Feuerwehr anrückt. Guckt die »Golden Girls«. Heuert bei einem Bestatter an, was die Tür zu vielen makabren Episoden öffnet. Auf dem Berufsinformationstag in der Schule von Peter, dem Freund ihrer WG-Mitbewohnerin und neben dieser Fungirls einziger Freund, lässt sie die Grundschulkinder ein halbverwestes Eichhörnchen präparieren. Die einen freuen, die anderen übergeben sich. Einen hochnäsigen Konkurrenten ihres Chefs betäubt sie und fotografiert ihn beim vermeintlichen Liebesspiel mit einer Leiche. Ihr Chef schmeißt sie trotzdem raus. Nicht, weil sie einem toten Soldaten mit einer Gurke eine Erektion verpasst oder eine Schönheitskönigin entstellt, sondern erst, nachdem sie versehentlich sein heiliges Monstrositätenkabinett angezündet hat.

Aber was ist das nun, außer – vielleicht, stellenweise – komisch? Wirklich Screw-up, also Chaos? Oder ist eigentlich Screwball gemeint? Zu den Wesenszügen dieser alten Filmgattung zählt das Filmlexikon der Uni Kiel unter anderem unbegrenzt zur Verfügung stehende Freizeit, Kindhaftigkeit der Charaktere, apolitisches Interesse der Figuren und die Frustration der männlichen Hauptfigur. Das könnte passen. Vulgär und unangebracht ist Fungirls Verhalten ohne jeden Zweifel, »charmant«, also bezaubernd, sicher nicht. Es ist menschlich, und man muss sich fragen, wieso.

Fungirl ist hypersexualisiert, dabei der sexuellen Orientierung nicht sicher, bindungsunfähig, ohne Kontakt zur Familie, unfähig zu Aufbau und Pflege von Freundschaften, am Ende vereinsamt. Sie hat keinen Plan, keine Ziele, keine Interessen außer dem an Sex und Essen. Ihr Lebenswerk ist die Registrierung eines Vulva-Emojis, ihre Belohnung dafür ein Like vom Bestatter; die zwei Freunde melden sich nicht mehr. Nach einem kurzen Glücksmoment fragt sie sich: »Hm … und jetzt?« Wir lachen darüber, weil wir uns ihre – und sei es: aufgesetzte – Unbekümmertheit wünschen, weil wir uns in ihrer Triebhaftigkeit wiedererkennen, und nicht zuletzt, weil und solange es um uns noch eine Spur weniger schlimm steht. Denn so wird der Mensch unter den gegebenen Verhältnissen.

Elizabeth Pich: Fungirl. Aus dem Englischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2024, 256 Seiten, 26 Euro

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