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Aus: Ausgabe vom 17.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Florence Hervé 80

Herzensangelegenheiten

Der feministischen Autorin und Journalistin Florence Hervé zum 80. Geburtstag
Von Gerd Schumann
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Revolution, Emanzipation, Frieden: Florence Hervé

Als Florence Hervé am 17. April 1944 nahe Paris geboren wurde, stand die französische Hauptstadt nach vier Jahren deutscher Besatzung kurz davor, sich von der Naziherrschaft zu befreien. Mitte August würde ein Generalstreik beginnen, wenige Tage später die Résistance zum offenen Aufstand übergehen und Ende August, unterstützt von alliierten Truppenverbänden, die Stadt unter ihre Kontrolle bringen. Paris se réveille, ­Paris erwacht und erhebt sich, auch viele Frauen sind dabei. Wie schon 1871 jene selbstbewussten, mutigen und klugen Barrikadenkämpferinnen der Pariser Commune.

Zu neuen Ufern

Florence Hervé steht in der Tradition der Kommune wie der Résistance, des Antifaschismus und der Emanzipation – ihre gesamte Biographie spiegelt das wider. Unverzagt leistet sie bis heute ihre Arbeit, macht weiter, mit freiem Geist, Wissen und anhaltender Entschlossenheit. Manchmal gesteht sie allerdings, dass die Lage nicht gerade einfacher wird – und damit meint sie nicht nur die Strapazen der ständigen Reisen, Auftritte und Meetings, Recherchen und Forschungen.

Als sie aufbrach zu neuen Ufern, in den Endsechzigern, bewegte sich um sie herum gerade viel, so viel, wie seitdem nicht wieder in dieser Intensität: Antifaschismus, Antimilitarismus, das Hinterfragen restaurierter Herrschaftsstrukturen wurden zumindest im Nachkriegswestdeutschland alltäglich. Das vermittelte wie vielen auch Florence, der jungen Mutter zweier Töchter, eine Vorstellung davon, wie kulturelle Hegemonie (Gramsci) tatsächlich aussehen könnte. Joni Mitchell (1969) träumte davon, dass sich Bomber in Schmetterlinge verwandeln, und Bob Dylan sang noch 1975 über diese Zeit: »There was music in the cafes at night / And revolution in the air.« Revolution, Emanzipation, Frieden – heute weitgehend verpönte Ideale – prägten Denken und Handeln.

Nach und nach entstand eine neue, vielfältige Frauenbewegung. Hervé gehörte zu deren führenden Persönlichkeiten, verstand den Kampf für Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Gesellschaftsveränderung als Einheit – ein zentraler Gedanke. Sie ging dafür auf die Straße, nicht nur am 1. Mai. Nach der Befreiung dieser Länder vom Kolonialismus reiste sie nach Angola, Kambodscha, Vietnam, zur Weltfrauenkonferenz in Nairobi, nach Namibia und Südafrika, forderte schließlich in Ankara vor dem Gefängnis Freiheit für die von der Todesstrafe bedrohte Kurdin Leyla Zana. Internationale Solidarität als Herzensangelegenheit.

Trotz aller Rückschläge

Im Griechenland der NATO-Obristen hatte sie bereits 1969 ihre »erste reale Begegnung mit dem Faschismus« gehabt, hatte Verfolger an den Hacken, ihre Reportage erregte Aufsehen. In Düsseldorf lernte sie Persönlichkeiten kennen, die im Widerstand gegen die Nazis gekämpft hatten: Henny Dreyfuss, Yvette Bloch, Alice Stertzenbach und auch im antifaschistischen Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte Frauen wie Marianne Konze, die sie später porträtieren würde. Die promovierte Germanistin Hervé schrieb und publizierte das »Lexikon der Rebellinnen« (mit Ingeborg Nödinger, 1996) und das »Weiberlexikon« (zuerst 1985, verschiedene erweiterte Auflagen), veröffentlichte jüngst zwei bedeutsame Porträtbände über europäische Widerstandskämpferinnen gegen Faschismus und Krieg. Wichtige zukunftsträchtige Werke – allesamt haben sie das Zeug dazu, Klassiker der Literatur über Frauen zu werden, so wie ihre Veröffentlichungen zu historischen Persönlichkeiten wie Clara Zetkin, Louise Michel, Flora Tristan, die Arbeiten zum Konzentrations­lager Natzweiler-Struthof, zu Oradour, ebenso die opulenten Reportagebände.

Mitgründerin der Demokratischen Fraueninitiative mit hundert Gruppen in den 80er Jahren, Mitherausgeberin des Kalenders »Wir Frauen« (seit 1979) und der gleichnamigen Zeitschrift (seit 1982). Beide überlebten die Zeitenbrüche, woran die geschichtserfahrene Hervé nicht geringen Anteil hatte. Weitermachen trotz aller Rückschläge. Mit dem Ende des Realsozialismus war der auch manchenorts im Westen von Hoffnung begleitete Anlauf vorerst gescheitert, die soziale Gleichberechtigung der Geschlechter dauerhaft zu etablieren.

Florence Hervé blickt kritisch auf die historische Abwicklung der DDR wie auch auf die gesellschaftliche Verfasstheit hierzulande nach 1990. Sie verweigerte die Annahme des ihr verliehenen Bundesverdienstkreuz. Es widerstrebe ihr, von einem Staat ausgezeichnet zu werden, dessen Regierung selten den Eindruck erwecke, an der Beseitigung von Diskriminierung und sozialer Ungleichheit sowie an Abrüstung interessiert zu sein, sagte sie. Das war 2014 – und ist zehn Jahre später aktueller denn je. Ihr aufrechter Gang fand überall im Land und auch in Frankreich Anerkennung: Hervé erhielt unter anderem den Clara-Zetkin-Preis der Linken (2011), den Luise-Büchner-Preis für Publizistik (2021) und den Louise-Otto-Peters-Preis der Stadt Leipzig (2022).

Ihre Arbeiten veröffentlicht Hervé häufig auf deutsch und auf französisch, diesseits und jenseits des Rheins, wo sie lebt. Und schreibt übrigens auch seit langem für diese Zeitung, in der sie etwa ihre beeindruckenden Reportagen über die Besteigungen von Kilimandscharo und Ararat publizierte.

An diesem Mittwoch feiert Florence Hervé, kaum zu glauben, ihren 80. Geburtstag, stilsicher am stürmischen »Ende der Welt«, dem bretonischen Finistère. Wir gratulieren herzlich.

Der Autor schrieb zusammen mit Florence Hervé »Baskenland. Frauengesichter. Frauengeschichten« (2000). Von Florence Hervé erschienen zuletzt bereits die dritte Auflage von »Mit Mut und List. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg« sowie »Ihr wisst nicht, wo mein Mut endet. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg« (2024)

florence-herve.com

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