4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 06.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Naher und Mittlerer Osten

Israels gefährlichster Gegner

Krieg gegen libanesische Hisbollah: Nach dem Angriff auf iranisches Konsulat in Syrien droht nicht nur Teheran mit Vergeltung
Von Wiebke Diehl
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Trauernde versammeln sich am Freitag um einen Lastwagen mit den Särgen von Mitgliedern der Revolutionsgarde, die bei dem israelischen Luftangriff in Damaskus getötet wurden

Der regionale Krieg im Nahen und Mittleren Osten droht sich nach dem israelischen Beschuss des iranischen Konsulats in Damaskus vom Montag auszuweiten. Der Angriff, der sowohl gegen die syrische Souveränität als auch das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen verstieß, ist eine Zäsur. Mindestens zwölf Menschen wurden dabei getötet, darunter zwei iranische Generäle der Revolutionsgarden, fünf iranische Offiziere sowie mehrere syrische Staatsbürger. Zahlreiche hochrangige iranische Politiker, darunter das politische und religiöse Staatsoberhaupt Ali Khamenei, haben Vergeltung geschworen. Aus aller Welt erfolgten Verurteilungen, im UN-Sicherheitsrat allerdings lehnten die USA, Großbritannien und Frankreich am Mittwoch eine von Russland entworfene Erklärung unter dem Vorwand ab, dass viele Fakten noch unklar seien.

Kriegsgefahr wächst

Israel hat seine Gefechtsbereitschaft verstärkt. Wie Militärsprecher Daniel Hagari am Donnerstag verkündete, hätten die Truppen entsprechende Anweisungen, Kampfflugzeuge könnten jederzeit »in unterschiedlichen Szenarien losschlagen«. Außerdem habe man Israels GPS-Systeme bis ins Landesinnere gezielt gestört, um Bedrohungen von außerhalb zu »neutralisieren«. Gleichentags wurde eine Urlaubssperre für Einheiten der israelischen Armee verhängt, zusätzliche Reservisten unter anderem für die Lufteinheiten sollten einberufen werden.

Auch die libanesische Hisbollah, Israels gefährlichster Gegner in nächster regionaler Nähe, hat erklärt, der Angriff werde nicht ohne Folgen bleiben. Von der Weltöffentlichkeit wenig beachtet, führte die israelische Armee ebenfalls am Montag und nicht zum ersten Mal auch einen tödlichen Angriff auf einen ranghohen Hisbollah-Kommandeur durch. Anfang Januar hatte Tel Aviv zudem Salah Al-Aruri, den stellvertretenden Leiter des Politbüros der Hamas, sowie zwei Kommandeure der Al-Kassam-Brigaden mitten in den südlichen Vororten Beiruts, dem Machtzentrum der »Partei Gottes«, gezielt getötet. An der Nordgrenze Israels kommt es seit dem 7. Oktober zu täglichem gegenseitigen Beschuss, bis zu 80.000 Bewohner Nordisraels mussten ihre Häuser dauerhaft verlassen, ähnlich stellt sich die Situation im Südlibanon dar. Die Hisbollah hat große Teile der israelischen Überwachungsanlagen an der Grenze zerstört und bedeutende Militärstützpunkte angegriffen.

Nach Ansicht von Emmanuel Navon, Professor der Politikwissenschaft an der Universität Tel Aviv, ist es »unwahrscheinlich, dass ein Krieg im Norden verhindert werden kann«. Dementsprechend plante der israelische Verteidigungsminister Joaw Gallant schon vor dem Angriff auf das iranische Konsulatsgebäude eine öffentliche Kampagne, um die israelische Bevölkerung auf einen möglichen Krieg mit der Hisbollah vorzubereiten, wie mehrere israelische Zeitungen Anfang der Woche berichteten. Seit Beginn des Gazakriegs hat Tel Aviv wiederholt gedroht, den Libanon anzugreifen. Militärs und Geheimdienstler hingegen warnen, die israelische Armee, die schon im Gazastreifen keines ihrer militärischen Ziele erreicht hat, könne einen solchen Krieg nicht gewinnen. So sagte der Generalmajor der Reserve Jitzhak Brick im Dezember im Interview mit dem israelischen Sender TOV, Israel sei auf einen Krieg mit der Hisbollah »nicht vorbereitet«. Ursächlich dafür seien u. a. die Reduzierung der Größe der Armee und das Versäumnis, Reservemunitionsdepots anzulegen. In anderen Interviews bemängelte Brick auch den mangelnden Kampfgeist der Truppe, die zu reinen Luftstreitkräften geworden sei.

Stärker als die Hamas

Zweifellos ist die Hisbollah ein ungleich stärkerer Gegner als die Hamas. Nachdem sie die israelischen Truppen im Jahr 2000 zum vollständigen Abzug aus dem Libanon gezwungen hatte, widerstand sie als einzige militärische Kraft in der Region der israelischen Armee in einem 33tägigen Krieg im Jahr 2006. Israel, das 1.500 Todesopfer und großflächige Zerstörungen an Kraftstoffwerken, Krankenhäusern, Schulen, Straßen, Brücken, zivilen Wohnhäusern und dem Flughafen in Beirut hinterlassen hatte, musste letztlich unverrichteter Dinge abziehen. Schon damals feuerte die Hisbollah ihre Raketen bis nach Haifa. Und sie hat ihr Arsenal seither erheblich aufgestockt, eine große Anzahl ihrer Flugkörper mit Lenksystemen ausgestattet und ihre Kampfkraft optimiert.

Heute ist sie in der Lage, gezielt strategische Ziele wie militärische Einrichtungen oder Kraftwerke in Israel anzuvisieren. Zudem befinden sich etwa 2.000 Drohnen in ihrem Besitz. Schon 2018 stufte das Center for Strategic and International Studies in Washington die »Partei Gottes« als stärksten bewaffneten nicht staatlichen Akteur der Welt ein. Schätzungen zufolge verfügt sie heute über 150.000 Raketen und Flugkörper, viele davon mit hoher Reichweite, so dass sie inzwischen jeden Ort in Israel erreichen könnte. Die israelische Armee und das israelische Verteidigungsministerium gehen davon aus, dass sie allein in den ersten Tagen eines Krieges mehrere tausend Raketen pro Tag abzufeuern in der Lage wäre.

Washington will eine weitere Eskalation in der Region im Jahr des Präsidentschaftswahlkampfes vermeiden und versteht, dass Israel nicht zuletzt vor dem Hintergrund seines Misserfolgs im Gazakrieg versucht, die USA in einen regionalen Krieg zu verwickeln. Am Tag nach dem Angriff auf das iranische Konsulatsgebäude, erklärte die Regierung, die USA seien weder beteiligt noch vorab informiert gewesen. Unter anderem der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian hatte allerdings den USA als Unterstützer Israels eine Mitverantwortung zugeschrieben.

Hintergrund: Israel und Al-Qaida

Seit Jahren versucht Israel, durch gezielte Angriffe in Syrien den Waffennachschub an die libanesische Hisbollah zu verhindern. So will man den Transfer insbesondere iranischer Präzisionswaffen, Luftverteidigungssysteme, Seeraketen, Drohnen und Militärtechnik an die »Partei Gottes«, die in Syrien an der Seite der Regierungsarmee kämpft, unterbinden. Zu diesem Zweck unterstützte Tel Aviv während des syrischen Kriegs schon früh den von den USA und den Golfstaaten vorangetriebenen Aufbau transnationaler Terrorgruppen, versorgte sie mit Material, trainierte sie und kümmerte sich um verletzte Kämpfer. Ziel war es, die Kontrolle über den Süden Syriens und insbesondere den dortigen Luftraum zu erlangen.

Im Januar 2013 griff die israelische Luftwaffe zum ersten Mal direkt an. Seither hat sie fast 290mal unter Verletzung der syrischen Souveränität das Nachbarland bombardiert. Darunter neben Militärstellungen und Waffenlagern auch Flughäfen und zivile Ziele. Die Hisbollah fuhr in der Folge ihre Eigenproduktion von Raketen und anderen Waffensystemen hoch.

In den vergangenen sechs Monaten hat die israelische Armee ihre Angriffe auf syrisches Staatsgebiet spürbar vervielfacht und damit begonnen, iranische Militärs in Syrien gezielt zu töten. Bereits im Dezember starb mit Razi Mussawi ein hochrangiger General der Al-Kuds-Einheit der iranischen Revolutionsgarde bei einem Luftangriff in der Nähe der syrischen Hauptstadt Damaskus. Zuletzt hat die israelische Luftwaffe mehrfach zeitgleiche, offenbar koordinierte Angriffe auf syrisches Staatsgebiet gemeinsam mit Terroristen des Al-Qaida-Ablegers Haiat Tahrir Al-Scham (früher Nusra-Front) durchgeführt. Vor einer Woche starben bei einem israelischen Angriff in der Provinz Aleppo, den Terrororganisationen mit einem Drohnenangriff flankierten, mehr als 50 Menschen – neben syrischen Armeeangehörigen und Zivilisten auch mehrere Mitglieder der Hisbollah. (wd)

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. April 2024 um 17:12 Uhr)
    Nach dem Luftangriff Israels auf ein Botschaftsgebäude erwartet Washington in der kommenden Woche eine mögliche Attacke des Irans. Diese könnte sowohl Ziele der USA und Israels als auch jüdische Einrichtungen weltweit ins Visier nehmen. Es wird befürchtet, dass eine solche Attacke sogar während des muslimischen Fastenmonats Ramadan stattfinden könnte. Diese Entwicklung lässt die Sorge vor einer direkten Konfrontation mit dem Iran in Israel weiter wachsen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Teheran seine Drohungen ernst meint, wie die Zeitung »Times of Israel« berichtet. Darüber hinaus sollen aus Sicherheitsgründen weltweit 28 israelische Botschaften geschlossen bleiben. Die Informationen des amerikanischen Geheimdienstes deuten auf den möglichen Einsatz von Kamikazedrohnen und Marschflugkörpern hin. Diese Meldungen haben viele Israelis in Panik versetzt. Einige begannen damit, Wasser und Lebensmittel zu hamstern, Generatoren zu kaufen und Bargeld abzuheben. Die Besorgnis wurde zusätzlich durch die Äußerung eines Mitglieds des Nachrichtendienstes verstärkt, das bei einem internen Treffen angab, dass »das Schlimmste möglicherweise noch bevorsteht«! Um potenzielle Bedrohungen zu erschweren, hat die israelische Armee sogar begonnen, GPS-Signale zu verschlüsseln, was zu Chaos auf den Straßen Israels geführt hat. Die Bevölkerung Israels sieht sich in einem zunehmend gefährlichen Umfeld umgeben und ist gezwungenermaßen versucht, mit dieser Bedrohung leben zu müssen.

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