4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 10.02.2024, Seite 8 / Ansichten

Westen in der Defensive

Scholz-Besuch in den USA
Von Jörg Kronauer
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Trommelt für mehr US-Militärhilfe: Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Ankunft in Washington (8.2.2024)

Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, da forderte Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 Deutschland zu einer aggressiveren, dabei auch militärisch operierenden Außenpolitik auf. Berlin solle mehr »internationale Verantwortung« übernehmen, lautete das damalige Schlagwort. Und blickte man genauer hin, dann zeigte sich: Es ging vor allem darum, in einem Gürtel von Ländern rings um Europa die Kontrolle zu erlangen. Zweierlei sollte dies bewirken: Berlin und die EU wollten sich damit gegen Unwägbarkeiten absichern – von Angriffen von außerhalb bis hin zur Einreise unerwünschter Flüchtlinge. Zugleich sollte der Schritt es den Vereinigten Staaten ermöglichen, ihren Fokus von Osteuropa und der arabischen Welt hin in die Asien-Pazifik-Region zu verschieben. Deutschland, meinten Gauck und andere in Berlin, war jetzt am Zug.

Das Land und die Region, die im Mittelpunkt der Gespräche von Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag in Washington standen – die Ukrai­ne sowie der Nahe und Mittlere Osten –, sind Teile des Staatengürtels, den deutsche Strategen Anfang 2014 im Visier hatten. Und doch: Wenig zeigt deutlicher, wie stark der Westen in die Defensive geraten ist, als der konkrete Anlass von Scholz‘ Reise. Vor zehn Jahren schickten sich Berlin und die EU an, in Mali – und damit im Sahel – die Kontrolle zu übernehmen, in Syrien Präsident Bashar Al-Assad durch einen klar prowestlichen Präsidenten zu ersetzen, und in der Ukraine standen der Maidan-Umsturz sowie Kiews umfassende transatlantische Wende kurz bevor. In Deutschland brummte die Wirtschaft, und die USA waren dabei, Barack Obamas Pivot to Asia Leben einzuhauchen. Es lief, so schien es, für den Westen rund.

Und heute? Der Sahel ist für den Westen weitgehend verloren, Syrien auch. Die Ukraine ist verstümmelt, in die Defensive geraten; um die komplette Niederlage abzuwehren, stellen die USA und die Staaten Europas mittlerweile dreistellige Milliardensummen bereit. Die Länder des Nahen und Mittleren Ostens versinken mehr denn je in Krise und Krieg; Berlin schickt die Deutsche Marine ins Rote Meer, aber nicht, um dort, sagen wir, die Kontrolle über den Jemen zu übernehmen, sondern um den Zusammenbruch des fast unverzichtbaren Seeweges zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean zu verhindern. Nicht Offensive, nein: Defensive, wenn auch fern der Heimat, steht an.

Und: Die Kräfte der Bundesrepublik, deren Wirtschaft dramatisch schwächelt, die immer mehr von inneren Spannungen zerfressen wird, reichen nicht aus. Kriegspanik in Europa soll helfen, Reserven lockerzumachen, und dennoch: Scholz muss nun in Washington um weitere US-Milliarden für die Ukraine betteln. Der vor einem Jahrzehnt in München ertönte Ruf, Deutschland werde sich jetzt zur globalen Macht mausern, ist verhallt, die Bundesrepublik schwächelt sehr. Das freilich ist keine Entwarnung: Auch Staaten werden zuweilen, sehen sie sich in die Enge getrieben, erst richtig gefährlich.

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